Monday, March 03, 2008

REPORT: Bericht über die Ereignisse in Armenien. Von Walter Kaufmann (02.03.2008)

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Südkaukasus-Interessierte,

in der Anlage sende ich Ihnen einen eilig aus den mir vorliegenden Informationen zusammengestellten Bericht über die Ereignisse in Armenien, die gestern zur gewaltsamen Auflösung von Massendemonstrationen und zur Verhängung des Ausnahmezustandes bis zum 20. März geführt haben.

In den westlichen Medien wurde bisher kaum über diese Ereignisse berichtet. Ich bitte die KollegInnen aus dem Journalismus unter Ihnen, auch diesem kleinen Land die gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Mit freundlichen Grüßen

Walter Kaufmann

P.S. Leider bin ich derzeit nicht in der Region und kann daher nur über Email erreicht werden.

Nach den November-Ereignissen in Georgien wurden am Samstagabend innerhalb weniger Monate im Südkaukasus ein zweites Mal Demonstrationen gewaltsam aufgelöst und ein Ausnahmezustand verhängt: In Armenien sind die der Präsidentschaftswahl vom 19. Februar folgenden Proteste nach einer Räumungsaktion der Polizei eskaliert.
Noch vor einem halben Jahr hätte in Armenien kaum jemand eine solche Entwicklung für möglich gehalten. Politischen Beobachtern schien ausgemacht, dass sich das geschlossene System der Machtsicherung innerhalb eines engen Zirkels, das sich unter Präsident Robert Kotscharjan in den letzten zehn Jahren entwickelt hat, auch durch den von der Verfassung vorgeschriebenen Abgang Kotscharjans nach zwei Wahlperioden nicht in Gefahr befinde. Spätestens seit den von der „Partei der Macht“, der Republikanischen Partei Armeniens mit haushohem Vorsprung gewonnenen Parlamentswahlen 2007 erschien die Machtübergabe von Kotscharjan an den Premierminister und „starken Mann“ neben Kotscharjan, Sergej Sarksian, als eine nur noch durch Wahlen zu legitimierende Formalität.
Doch dann trat im September 2007 plötzlich der vor 10 Jahren von Kotscharjan zum Rücktritt gezwungene erste Präsident der Unabhängigkeit, Levon Ter-Petrosjan, vor die Presse und kündigte seine Kandidatur an. Dieser Auftritt war auch deshalb so sensationell, weil sich Ter-Petrosjan seit seinem Rücktritt völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und sich wieder seinem Spezialgebiet, der Mediävistik, zugewandt hatte. Somit kehrte plötzlich ein Mythos in die armenische Tagespolitik zurück, und die gesellschaftlich stark verankerte, aber politisch schwach organisierte Opposition gegen Kotscharjan und Sarksian erhielt plötzlich einen charismatischen Führer und begnadeten Redner.

Levon Ter-Petrosyan organized protest meeting near Matenadaran 2008-02-20 Protest meeting, Matenadaran (Set)

Ter-Petrosjan konzentrierte seine Wahlkampagne ganz auf stundenlange Kundgebungen im Zentrum Jerewans, bei denen er in rhetorisch ausgefeilten Reden das „kleptokratische Regime“ seiner Nachfolger auseinandernahm und an die mit seinem Namen verbundene Zeit des „demokratischen Aufbruchs in die Unabhängigkeit“ Ende der 80er Jahre erinnerte. Er entschuldigte sich auch für einige Fehler seiner Amtszeit, wobei er jedoch die von ihm selbst zu verantwortenden Fälschungen der Präsidentschaftswahl 1996, durch die er damals eine zweite Wahlrunde mit ungewissem vermied, nicht eigens erwähnte.
Die Regierung reagierte auf Ter-Petrosjans von vielen Zehntausenden besuchte Kundgebungen mit wütenden Medienkampagnen in den staatlich kontrollierten elektronischen Medien, in denen v.a. an die Zeit der dramatischen Energiekrise in Armenien 1992/1993 erinnert wurde. Erst einen Monat vor der Präsidentschaftswahl erhielten auch Petrosjan und andere Oppositionskandidaten einige, ihnen nach dem Wahlgesetz zustehende Sendezeit.
Mit den großen Mobilisierungserfolgen Ter-Petrosjans in der Hauptstadt Jerewan, in der über ein Drittel der armenischen Bevölkerung lebt, wurde aus den als längst entschieden geltenden Präsidentschaftswahl am 19. Februar plötzlich eine Konkurrenz mit ungewissem Ausgang. Sollte es tatsächlich zu fairen Wahlen mit offenem Ausgang kommen, deren Ergebnis von Siegern und Verlieren gleichermaßen akzeptiert würde?
Leider kam es anders – so, wie es in einigen postsowjetischen Staaten mittlerweile schon zur Regel geworden ist: Wahlfälschung, Einsatz aller administrativen Ressourcen, Druck auf die Medien, Repression auf der einen Seite – populistische Radikalopposition, Massendemonstrationen, Boykottaufrufe auf der anderen Seite. In der Kunst, sich gewünschte Wahlergebnisse zu organisieren, sind die armenischen Autoritäten, ähnlich wie ihre Nachbarn in Aserbaidschan und leider auch in Georgien, sehr erfahren. Längst greift man dabei nicht mehr auf grobe und für internationale Wahlbeobachter leicht festzustellende Verfahren wie Raub von Wahlurnen, das Auffüllen von Urnen mit gefälschten Stimmzetteln oder die direkte Einschüchterung von Wählern im Wahllokal zurück. Viel wirksamer und viel unsichtbarer sind Methoden des massiven Stimmenkaufs und der indirekten Einschüchterung. Für den Stimmenkauf reichen in ländlichen Gegenden Nahrungsmittellieferungen oder kleinere Geldbeträge, in städtischen Regionen werden auch schon größere Geldbeträge verteilt. Einschüchterung wirkt v.a., wenn Beschäftigten mit dem Verlust des Arbeitsplatzes gedroht wird, sollte sich erweisen, dass sie für den falschen Kandidaten gestimmt haben.
Da in weiten Teilen der Gesellschaft das Vertrauen in die Legitimität von Wahlen dementsprechend gering ist, ist die Opposition in keiner Weise darauf eingestellt, ein Wahlergebnis zu akzeptieren und auf evolutionären Ausbau ihrer Positionen zu setzen. So war die Konfrontation nach der Verkündung der offiziellen Wahlergebnisse, die Sergej Sarksian einen Wahlsieg in der ersten Runde mit 52% der Stimmen zusprachen, geradezu zwangsläufig. Zwar billigte die OSZE-Beobachtermission die Wahlen als „weitgehend demokratisch“, doch wurde dies von der Opposition nur als ein weiterer „Kniefall des Westens“ vor einem autoritären Regime in der europäischen Peripherie gedeutet. Ter-Petrosjan und Zehntausende seiner Anhänger versammelten sich zu Dauerdemonstrationen und bauten Zeltstädte am Freiheitsplatz im Zentrum von Jerewan, um die Wiederholung der Wahlen zu erzwingen. Zehn Tage lang verhielt sich die Regierung abwartend, und im Fernsehen riefen Kotscharjan und Sarksian zu Ruhe und Zusammenarbeit mit der Regierung auf. Am frühen Morgen des 1. März griff sie jedoch ohne Vorwarnung zu Gewalt, als Spezialtruppen des Innenministeriums die Demonstranten vertrieben, die Zeltstadt abräumten und Ter-Petrosjan in Hausarrest nahmen. Bei dieser Aktion wurden ca. 30 Demonstranten verletzt. Im Laufe des Tages kam es dann zu einer großen Spontandemonstration mit über 100.000 Teilnehmern vor dem Rathaus von Jerewan. Einige Demonstranten errichteten Straßensperren. Diese Demonstration wurden von Polizei, Soldaten und Spezialtruppen des Innenministeriums mit massiver Gewalt (Gas und Gummigeschosse, nach einigen Angaben auch scharfe Munition) angegriffen, konnte aber nicht aufgelöst werden. Nach unbestätigten Berichten kam ein Demonstrant ums Leben, mehrere Polizisten wurden teils schwer verletzt.
Am Abend des 1. März rief Ter-Petrosjan von seinem Haus aus die Demonstranten auf, nach Hause zu gehen und die Bestimmungen des Ausnahmezustandes nicht zu verletzen, um Opfer zu vermeiden. Er werde weiter für die Wiederherstellung von Demokratie und Recht in seinem Land kämpfen. Diesem Aufruf folgten die Demonstranten; gegen 3 Uhr in der Nacht löste sich die Demonstration auf.
Nun herrscht in Armenien bis zum 20. März der Ausnahmezustand. Ob diese bleierne Zeit mit der autoritären Verfestigung einer Präsidentschaft Sarksian, mit Kompromissen zwischen Opposition und Regierung oder gar mit einer Neuwahl endet, ist zum derzeitigen Zeitpunkt nicht vorhersagbar.

Walter Kaufmann
02.03.2008

Walter Kaufmann
Director
Heinrich Boell Foundation
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5, Radiani str., 0179 Tbilisi, Georgia
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F: +995-32-912897
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Photos uploaded on February 27, 2008 by Vaghinak Petrosyan

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