Tuesday, July 17, 2012

LITERATUR: Jugend ohne Eltern. Von Fokke Joel (freitag.de)

(freitag.deIm Krieg Die Georgierin Tamta Melaschwili erzählt eindrucksvoll von zwei Mädchen, die ihr Leben täglich dem Schicksal überlassen müssen.


Jugend ohne Eltern
Foto: Marco Longari/AFP/ Getty Images
Zknapa und Ninzo sind 13 Jahre alt. Sie gehen auf dieselbe Schule, in dieselbe Klasse. Sie streiten sich und versöhnen sich auf eine Art, wie Freundinnen es überall auf der Welt tun. Und sie haben Probleme, wie alle Mädchen in ihrem Alter. Zum Beispiel hat Ninzo bereits einen Busen und ihre Regel, Zknapa noch nicht. Was Zknapa, die Erzählerin der Geschichte, immer wieder ärgert.


Eine banale Geschichte, wäre da nicht der Zufall, der diese beiden Mädchen in einem Dorf aufwachsen lässt, das in einem Kriegsgebiet liegt. Die georgische Schriftstellerin Tamta Melaschwili lässt den Leser in ihrem Roman Abzählen darüber im Ungewissen, wie dieses Dorf heißt und wo es genau liegt. Bekannt ist nur, dass es von feindlichen Truppen umgeben ist. Ein Ort, in dem fast nur noch alte Leute, Frauen und Kinder leben, weil die Männer im Krieg sind. Auch der Vater von Zknapa ist an der Front. Und ihre Mutter, die zusammen mit ihr und dem kleinen Bruder zurückgeblieben ist, überfordert die Situation. Der Bruder schreit ständig vor Hunger, weil die Brüste von Zknapas Mutter keine Milch mehr geben. Damit er nicht verhungert, brechen Ninzo und Zknapa in eine verlassene Apotheke ein. Doch die beiden finden auch dort keine Babynahrung, die es in den geplünderten Läden nicht mehr zu kaufen gibt. Als sie es dann mit der Milch der Ziege einer Nachbarin versuchen, hilft auch das nichts, das Baby bekommt Ausschlag. Schließlich droht Zknapas Mutter die Nerven zu verlieren. „Wenn es aufwacht“, sagt sie zu ihrer Tochter, „weint es wieder, dann erschieß mich doch, bitte, erschieß mich einfach, wenn du willst, auch das Kind, erschieß uns beide.“ Zknapa versucht die Mutter zu beruhigen, die auch noch die Angst zerfrisst, dass ihr Mann sterben wird. „Er stirbt nicht, Mami, du wirst sehen, wie gut alles sein wird“.


Tamta Melaschwili lässt ihre junge Erzählerin in kurzen Sätzen von ihrem Leben im Krieg erzählen. Was Zknapa und andere sagen, leitet sie jeweils mit einem „sag ich“, „sagt sie“ und so weiter ein. Allgemein würde man das wohl als sprachliche Ungelenkigkeit oder gar Fantasielosigkeit bewerten, doch in Abzählen entwickelt es eine eigene ästhetische Qualität. Durch die Wiederholungen entsteht ein Rhythmus, der die Lektüre noch eindringlicher macht. Zudem entspricht diese Art, die Geschichte aufzuschreiben, Zknapas Zustand. Das ständige „sag ich“, „sagt sie“ wirkt wie eine Beruhigungsformel, ist wie eine Konstante in einer Welt, die das Mädchen ständig überfordert. Es ist ein sprachlicher Halt, der ihr ermöglicht, von ihrem Leben zu berichten.


Ene, mene, ming, mang …“


Ganz ähnlich funktioniert auch das Abzählen, das Tamta Melaschwili zum Titel ihres Romans gemacht hat. Beim Abzählen fliegt immer einer raus. „Ene, mene, ming, mang, kling, klang, eier, weier, weg.“ Es führt Entscheidungen herbei, die man nicht selbst treffen muss, die dadurch etwas Schicksalhaftes bekommen. Freud definierte das Schicksal bei Erwachsenen als Ersatz für die Instanz der Eltern. Auch Zknapas und Ninzos Eltern stehen für Entscheidungen nicht mehr zur Verfügung. Nur dass die beiden keine Erwachsenen, sondern noch Kinder sind. Ninzo ist Waise, hat nur noch ihre im Sterben liegende Großmutter, um die sie sich kümmern muss. Zknapas Vater ist im Krieg und ihre Mutter kaum ansprechbar. Das ist auch der Grund, warum sich die beiden Freundinnen so sehr brauchen. Und deswegen greift Zknapa in Situationen der Unsicherheit immer zum Mittel des Abzählens, damit ihr das Schicksal eine Entscheidung abnimmt.


Als ihr zwei Männer einen Umschlag mit der Liste der Toten aus ihrem Dorf geben, sagen sie zwar, dass ihr Vater nicht darunter sei. Gleichzeitig soll sie den Umschlag aber auf keinen Fall öffnen, sondern nur einem Mann im Dorf geben, der dann alles Weitere regelt. Zknapa überlegt und legt fest, dass sie die Entscheidung, ob sie den Umschlag doch öffnen soll, der Anzahl der Schritte bis zum nächsten Baum überlässt. Ist die Anzahl eine gerade Zahl, will sie den Umschlag öffnen, ist sie ungerade, dann nicht. Es sind 148 Schritte, und sie öffnet den Umschlag. Zknapa erzählt es nicht, so kann der Leser nur mutmaßen: dass ihr Vater wohl doch unter den Toten ist.


Tamta Melaschwili ist mit Abzählen ein beeindruckender Roman gelungen, der die Probleme der Kindheit mit den Problemen in einem Leben voller Unsicherheit, mit Gewalt und Tod, einem Leben im Krieg verknüpft. Melaschwili erzählt die Geschichte von Zknapa und Ninzo so, wie sie überall passieren könnte, irgendwo auf der Welt in einem der zahllosen Kriege oder – wie es heute oft euphemistisch heißt – „Konflikte“, von denen man immer nur die Zahl der Toten aus den Medien erfährt.

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