Tuesday, May 21, 2013

PODCAST: Die Hoffnungen wehen im Wind. Die Tradition des Wunschbaums ist in Georgien tief verwurzelt. Von Andi Hörmann (dradio.de)

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(dradio.de) Der Wunschbaum ist ein alter heidnischer Brauch in Georgien. Die Menschen binden als Symbol für ihre Sehnsüchte und Hoffnungen kleine Bändchen daran. Ihre Symbolkraft ist angesichts der gesellschaftlichen Umbrüche aktueller denn je.
 
Lose Pflastersteine und knirschender Schotter - ein Fußweg schlängelt sich hoch zu der Burgruine Nariqala. In beige-grauen Farbtönen thront die ehemalige Festung über der Altstadt von Tiflis. Es riecht nach Sommer, die Mittagssonne ist stechend heiß, die Felsen sind aufgeheizt. Nur ein laues Lüftchen umweht die Zweige eines alten, verästelten Kirschbaums - die Blätter rascheln im Wind.

"Wenn du dir den Wunschbaum ansiehst, wie schön der ist. Das weckt sofort Hoffnung. Bunt, schön, positiv."

Rot, gelb, blau - Stoffe in verschiedensten Farben, Haargummis und Taschentücher, in Fetzen gerissene Plastiktüten - niedlich drapiert sind sie in Form kleiner Schleifen an Äste und Zweige gebunden. Symbole der Sehnsucht.

"Wenn die Leute ein Taschentuch dabei haben, binden sie das an diesen Baum fest und dann wünschen sie sich etwas. Aber ich habe das nie gemacht. Ich denke über solche Sachen anders. Ich glaube, wenn man einen Wunsch hat, dann muss man daran arbeiten und sich nicht auf einen Baum verlassen."

Der Wunschbaum ist ein alter heidnischer Brauch in Georgien, doch George Chantladze kann über solche abergläubische Rituale nur schmunzeln. Er studiert an der Iwane-Dschawachischwili-Universität in Tiflis Sportmanagement. Die Dozentin Natia Burdshanadze unterrichtet Deutsch an der Fakultät Kunst & Wissenschaft. Wunschbäume sind für sie ein verstaubtes Relikt aus längst vergangenen Zeiten.

"Ich habe das in meinem Leben einmal gemacht in meinem Dorf. Ich weiß nicht mehr, was ich mir damals gewünscht habe. Aber heute glaube ich nicht mehr daran. Heute denke ich, das ist nur eine Dekoration für die Stadt oder für die Leute, die daran glauben. Also ich nicht."

Wunschbäume sind tief verwurzelt im kollektiven Gedächtnis der georgischen Bevölkerung. Als Motiv tauchen sie immer wieder in Literatur, Musik und Filmen auf. 1977 erscheint zum Beispiel mit "Natvris Khe" einer der heute bekanntesten Filme aus Georgien: "Der Baum der Wünsche". Der Regisseur Tengis Abuladse erzählt in dieser Literaturverfilmung von der Zerstörung georgischer Traditionen in Zeiten politischer Umbrüche. Natia Tavadze ist geboren, als der Film in den Kinos lief. Sie ist Germanistin und arbeitet in Tiflis als Übersetzerin.

"Der ganze Film symbolisiert die problematische politische, wirtschaftliche, soziale Lage Georgiens vor der Oktoberrevolution. Und in dem Film gibt es einen Mann, der an das Gute glaubt. Er sucht nach einem Wunschbaum, weil er nach dem Heil sucht. Am Ende verkommt er, weil er an einem Baum erfriert. Und dann sagt derjenige, der ihn an dem Baum erfroren findet: Ja, er habe sich wirklich den schönsten Baum im Wald ausgesucht.

Man könnte ja denken, weil er am Ende stirbt, dass die Suche nach einem Wunschbaum umsonst und unrealistisch ist, aber die Töchter suchen weiter. Sie sagen: Ja, unser Vater hat den Wunschbaum nicht gefunden, aber wofür sind wir da? Er hat die Hoffnung an uns weiter gegeben. Es gibt auch ein Lied über den Wunschbaum und der Text lautet: Wunschbaum, oh, Wunschbaum, du hast mir meine Seele mit Wünschen erfüllt und jetzt glaube ich auch daran, dass die Wünsche in Erfüllung gehen."

Die Symbolkraft der Wunschbäume ist heute in Georgien vielleicht aktueller denn je: Die Bevölkerung ist gegenüber der Regierungspartei "Georgischer Traum" von Bidsina Iwanischwilli von einer tiefen Skepsis durchdrungen. Seit dem Regierungswechsel im Oktober 2012 stehen in der georgischen Hauptstadt alle Zeichen auf politischen und gesellschaftlichen Umbruch. Die Hoffnungen und Sehnsüchte der Georgier flattern im übertragenen Sinn wie die Bändchen am Wunschbaum. Doch in welche Richtung der Wind weht, ist noch ungewiss.

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