Von Günter Gstrein ...
Der Stier von Uschgul war dem Gotte Germet geweiht. Vier Jahre war es ihm gestattet, alles Gute des Lebens zu genießen: er konnte weiden, wo er wollte, fressen, was er wollte. Selbst aus Gärten wurde er nicht vertrieben. Im Gegenteil, man war glücklich, fraß er die Kohlköpfe im eigenen Garten. Nie wurde er geschlagen oder vertrieben. Im fünften Jahr wurde er abgestochen und gemeinsam verzehrt. Es wäre sinnlos gewesen, auch nur einen der Uschguler nach der Bedeutung des Stiers oder des Festes zu fragen. Hätte aber das geheime Bewusstsein der Menschen auf irgendeine Weise einen körperlichen Mund gefunden, so hätte dieser wohl behauptet, dass das totgeweihte heilige Tier Gott und Opfer zugleich sei und dass der des Göttlichen teilhaftig werde, der von seinem Fleisch esse. Und einen solchen Stier tötete Fürst Phutha! Alle blieben stumm. Keiner vermochte den Knaben zu fragen, wie es geschah. Der Knabe zitterte. Drei Jahre vorher war dieser schwarze, ungeheuer große Stier mit dem weißen halbmondförmigen Flecken auf der Stirn als Opfer ausersehen worden. Drei Jahre lang wurde er vergöttert. Während die anderen Stiere in den Wintermonaten wie Gefangene an Krippen festgebunden waren, war dem heiligen Stier keine Beschränkung auferlegt: nach Belieben konnte er sich im Freien aufhalten und sich in frischer Luft tummeln. So war es auch jetzt gewesen. [...] Wie ging die Geschichte mit dem heiligen Stier der Uschguler weiter? Der Knabe hatte den heiligen Stier nicht festgehalten. Er hatte ihn auf das Schneefeld hinausgeführt. Plötzlich sah der Knabe den Fürsten heranreiten. Der Fürst, das sah er gleich, war stockbetrunken. Der Knabe grüßte ihn nicht oder verneigte sich nicht sehr tief vor ihm. Er wusste, dass die Menschen den Fürsten hassten, weil er das Land unterjochen wollte. Der Fürst geriet in Wut. Sein Blick fiel auf den Stier: er ergriff sein breites Dolchmesser und hieb mit einem Schwung den Kopf ab. Einen Blick voll Wut und Todesschmerz warfen die brechenden Augen des Stieres auf seinen Henker. Dass der Fürst kurz danach vom Pferd fiel, fast an seinem Erbrochenen erstickt wäre, spielt hier keine Rolle, ebensowenig, dass das Fell des heiligen Stieres silbrig glänzte, auch nicht die Zeichen seines Todeskampfes: Zuckungen da und dort. Der blutgetränkte Schnee war nichts als ein Bild, das lange zuvor in den Köpfen da war, bevor der Fürst den Kopf des Stieres abschlug. Allerdings ließ sich der so getötete heilige Stier nicht gemeinsam verzehren. Er verfaulte an Ort und Stelle. Kein Zweifel, der Frevler musste schon bald selbst einem Messer zum Opfer fallen.
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