Wendell Steavenson: Gestohlene Geschichten. Aus Georgien
Von Jörg Kassner
"Es ist die meisterhafte Verknappung, durch die dieses Buch zu einem Georgienbuch der ganz besonderen Art wird. Und es ist die bedingungslose Subjektivität, der Verzicht auf Allgemeingültigkeit, der es so glaubhaft werden lässt. " … ich habe keine Schlussfolgerungen anzubieten. Der Kaukasus, Georgien würde jeden zum Narren machen, der eine Voraussage wagte. … Daran ändern kann man nichts. Das Beste, was wir tun können, ist Achtung vor unserer Familie haben, unsere Freunde lieben, eine Flasche Wein öffnen, sie trinken und dann eine weitere öffnen." Wie sollte man die Eigenart dieses Landes besser zusammenfassen. [...]
"Warum um alles in der Welt Georgien?" wird die Autorin vor ihrer Abreise gefragt – und sie kann diese Frage nicht schlüssig beantworten. "Wer weiß, woher der Antrieb kam, aus dem Geist, der Seele oder nur der Ausreißerin in mir." Wendell Steavenson erlebt eine Welt, die fremd und teilweise auch bedrohlich ist, sie besucht tschetschenische Flüchtlinge im Pankisi-Tal und beobachtet Mitarbeiter einer NGO beim Minenräumen in Abchasien, sie lässt sich von Details der georgischen und gesamtkaukasischen Geschichte faszinieren – von Giorgi Saakadse beispielsweise, der schillerndsten Figur der georgischen frühen Neuzeit - vor allem aber durchlebt sie den Alltag ihrer Gastgeber in allen nachtschwarzen und frostigen Facetten bei der routinemäßigen Stromabschaltung im Winter bis hin zum heiteren Fest in Kachetien. Ihr gelingt das Kunststück, ohne Anbiederung und bei aller gebotenen kritischen Distanz das Lebensgefühl des jungen unabhängigen Georgien mit allem Licht und allem Schatten einzufangen und auszukosten, mit dem Land zu verschmelzen, soweit dies einer Ausländerin möglich ist und dennoch nicht den Blick für die Absurditäten vieler Erscheinungen in Gesellschaft und Politik zu verlieren. Deutlich wird dies, wenn sie beschreibt, wie sich Freunde wegen sinnloser Ehrbegriffe duellieren und gefährlich verletzen, sie nur zuschauen, den Kopf schütteln und Mitgefühl zeigen kann. Oder wenn sie von ihrer Begegnung mit Aslan Abaschidse, dem ehemals starken Mann Adschariens, berichtet. Die Journalistin beobachtet sehr genau, beschreibt mit klarer Eindringlichkeit, was ihr auffällt. Mit Wertungen hält sie sich zurück, ohne eine klare eigene Meinung vermissen zu lassen. Es ist aber nicht nur ein Buch über Georgien bzw. den Kaukasus (Wendell Steavenson war auch in den Nachbarländern häufig unterwegs), es ist auch ein "Guckloch" in die Welt der "modernen Nomaden", der Nichtsesshaften des Informationszeitalters, der Krisenreporter und der "Mehr-oder-weniger-Aussteiger". Und es ist nicht zuletzt auch eine rührende Liebesgeschichte, die Schilderung der Beziehung zum Fotografen Thomas, die traurig-schön ohne eine Spur von Kitsch und billiger Sentimentalität ist, selbst dann nicht, als Thomas 1000 rote Rosen in die Wohnung der Angebeteten schickt. Gibt es Dinge, die das Gleichmaß dieses unbedingt empfehlenswerten Buches stören? Man kann über den Aufbau geteilter Meinung sein – viele Episoden stehen etwas zu unverbunden nebeneinander, viele Sprünge (lokal und chronologisch) erschweren es dem Leser mitunter die Übersicht zu behalten. Der Prolog ist für meinen Geschmack zu reißerisch – ein Besuch in einer Art privatem Stalinmuseum, etwas zu plakativ und gewollt gruselig."
Der ganze Text: Verdienstvoller Diebstahl (Kaukasische Post)
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