Saturday, April 07, 2012

ARMENIEN: Wim Wenders – Jedes Bild erzählt eine Geschichte. Von Belinda Grace Gardner (welt.de)

Zwei Ansichten des Riesenrades hat Wim Wenders 2008 in Armenien aufgenommen. Auf der anderen Seite des Riesenrads liegen die bröckelnden Häuser einer verwaisten Wohnanlage unter hellgrauer Wolkenwand. „Manchmal erzählt nur der Gegenschuss die Wahrheit“, so Wenders

Wim Wenders
© Courtesy Wenders Images

Der Jahrmarkt ist vorbei. Die Menschen, die hier einst Vergnügen suchten, sind weitergezogen, ihre Rufe, ihre Gelächter sind verhallt. Vor verhangenem Himmel erhebt sich in struppiger Einöde die Ruine eines Riesenrads. Am korrodierten Gerüst rosten die Gondeln.


Die Kreise, die sie einst hoch über der Landschaft zogen, sind für immer angehalten. Auf der anderen Seite des Riesenrads liegen die bröckelnden Häuser einer verwaisten Wohnanlage unter hellgrauer Wolkenwand.

Wim Wenders hat beide Ansichten 2008 in Armenien aufgenommen. Sie sind Teil der jetzt in der Sammlung Falckenberg / Deichtorhallen in Zusammenarbeit mit Wenders Images Berlin realisierten Ausstellung „Places, strange and quiet“ mit rund 60 großformatigen Fotografien des prominenten Regisseurs, Künstlers und Vertreters des „Neuen Deutschen Kinos“, die vom 14. April bis zum 5. August zu sehen ist.

„Manchmal erzählt nur der Gegenschuss die Wahrheit“


Die meisten Exponate der Schau, 2010 erstmals anlässlich der 29. Biennale São Paulo im Museu de Arte präsentiert, waren noch nie in Deutschland zu sehen. „Das Sprichwort sagt: ‚Jedes Bild erzählt eine Geschichte ...‘“, heißt es in Wenders’ Aufzeichnungen zum rückwärtig fotografierten Riesenrad-Motiv im begleitenden Katalog. „Manchmal erzählt nur der Gegenschuss die Wahrheit.“

Den verborgenen Wahrheiten, die in den abgewandten Kehrseiten der Wirklichkeit schlummern, ist Wim Wenders seit vielen Jahren auf der Fährte. In den kargen Sehnsuchtslandschaften, die sich in seinen Filmen wie dem vielfach preisgekrönten Roadmovie „Paris, Texas“ (1984) ebenso ausdehnen wie in seinen Fotografien, fließt die Zeit in verlangsamtem Tempo.

Es sind Orte, denen das Warten innewohnt: verlassene und verlorene Gegenden, in denen die Zeichen früheren menschlichen Seins noch wie flüchtige Nachbilder erkennbar sind.

Gegen das Vergessen und Verschwinden gerichtet


Laut Wenders enthalten „Landschaften und Orte das Bedürfnis in sich, erzählt, festgehalten und weitergezeigt zu werden.“ Seine gegen das Vergessen und Verschwinden gerichteten Fotografien, in denen die Landschaften und Orte vor der Auflösung bewahrt werden, sind auf seinen zahlreichen Reisen rund um den Globus von Ostdeutschland bis Armenien, Italien und Südostasien, vom Westen der USA bis Südamerika und Australien entstanden.


Aber auch auf Erkundungen von Metropolen wie São Paulo, Moskau, oder Tokio und in der Hauptstadt Berlin, wo er wohnt, wurde der 1945 in Düsseldorf geborene, passionierte Augenmensch mit Sinn für die leisen Zwischentöne der Realität fündig.


Ein „eingebauter Radar“ führt ihn nach eigener Aussage in solche Ecken der Welt, „die entweder sonderbar ruhig oder auf eine ruhige Art sonderbar sind“. Die ihnen implizit eingeschriebenen Geschichten setzt Wenders in seinen Bildern frei.

"Orte, seltsam und still" im Fokus des fotografischen Werks

Der Titel seiner jetzigen Ausstellung, die sich in den weitläufigen Räumen der Sammlung Falckenberg in Harburg über drei Stockwerke erstreckt, deutet auf genau diese „Orte, seltsam und still“, die im Fokus seines fotografischen Werks stehen und auch sein filmisches Schaffen durchwirken.


Losen Werkgruppen folgend, strahlen die oft menschenleeren oder nur sparsam bevölkerten Szenen in der gezeigten Auswahl von Arbeiten eine kontemplative Stimmung aus. Diese prägt auch die markante Ansicht leerer Stuhlreihen in einem improvisierten Open-Air-Kino in Palermo, wo gerade keine Vorführung läuft.

Das in einem von Palmen durchbrochenen, städtisch umrahmten Nirgendwo befindliche Arrangement aus knallorangefarbenem Gestühl hat die magische Energie des Surrealen. In der Schwebe zwischen Tag und Traum erscheinen auch die japanischen Seestücke im sanften Dämmerlicht.


Immer wieder im Parcours der Ausstellungsräume in Durchblicken auftauchend, rufen sie jenes Ziehen in der %Seele hervor, das auch die von Schattenwürfen erfassten Kleinstadtfassaden des amerikanischen Malers der Melancholie Edward Hopper bestimmt.

Wenders gibt dem Beiläufigen, Flüchtigen Gewicht


Wim Wenders hat eine atmosphärisch nicht minder %intensive Situation an einer einsamen Straßenecke in Butte, Montana, eingefangen. Den schiefen Laternenmast, der dort neben einem winzigen roten Feuerhydranten steht, so schreibt Wenders in einer Notiz dazu, habe angeblich ein Einheimischer mit seinem Pick-up-Truck verbogen. Eine Legende des Alltags, fotografisch festgehalten.


Wenders gibt dem Beiläufigen, Flüchtigen Gewicht und lässt das Schwere zugleich so leicht erscheinen wie der helle Dunst über der maroden Siedlung unweit des stillgelegten Riesenrads irgendwo in Armenien. Die fotografischen Arbeiten sind ein eigenständiger Strang in dessen Werk und enthalten doch immer erzählerische Momente, die eigene Filme in den Köpfen der Betrachter auszulösen vermögen.


Es sind Bilder von Landschaften und Orten, die auch in absentia von den Menschen sprechen, die sie bewohnt und durchschritten haben. Wie Wenders im Buch zur Ausstellung feststellt, begibt er sich in fremden Städten und Ländern gern auf Friedhöfe. „Nicht, um mehr über die Toten zu erfahren, sondern um Auskunft über die Lebenden zu erhalten.

Ein Motiv: Menschen in ihrer kollektiven Lebensbewältigung


Die Ansichten aus den USA, von den Golanhöhen, aus Armenien oder Japan eint eben dieses unterschwellig spürbare Anliegen des Künstlers, die Menschen in ihrer Eigenheit, aber auch in ihrer kollektiven Lebensbewältigung, ihren Wünschen und Hoffnungen, ihrem Scheitern und Vorwärtsgehen sichtbar werden zu lassen.


Auch wenn sie an den seltsamen, stillen Orten, die Wenders besonders anziehen, oftmals fehlen, hinterlassen sie überall in dessen Werk ihre Spur.

Wim Wenders, der als Professor für Film an der Hochschule für bildende Künste Hamburg lehrt und dessen experimenteller Tanzfilm „Pina“ kürzlich für einen Oscar nominiert wurde, bewahrt diese Spur in unserer beschleunigten Zeit kraft seiner Poesie der Langsamkeit vor der Verflüchtigung



Die Ausstellung ist im Rahmen von Führungen zugänglich (jeweils Mi./Do.: 18 Uhr, Fr.: 17 Uhr, Sa./So.: 11 Uhr und 15 Uhr). Anmeldung erforderlich. Deichtorhallen Hamburg / Sammlung Falckenberg, Phoenix Fabrikhallen, Wilstorfer Straße 71, Tor 2, 21073 Hamburg-Harburg. Anmeldung: www.sammlung-falckenberg.de



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