(zeit.de) Wenn Nodar Danelia auf der Krankenstation in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) auftaucht, herrscht der Notfall. Dann haben wieder die Bakterien das Zepter übernommen. Oftmals ist ihre Herrschaft sogar zu riechen. „Proteus-Bakterien stinken richtig“, sagt der Arzt, der nach 30 Jahren an der mikrobiologischen Front mit den gefräßigen Gesellen auf Du und Du ist. Dann erzählt Danelia von einem ehemaligen Patienten. Der verströmte einen wahren Pesthauch, weil er gleich mit einer Vielzahl an Bakterienarten zu kämpfen hatte. Der 27Jährige hatte sich den Oberkörper verbrannt. Danelia zeigt ein Foto: ausgedehnte, rote Wundinseln und eitrige Beläge in vernarbter Haut. Ein Anblick, den Laien schwer ertragen können, für den Arzt aber ist das alltäglich.
Sechs Jahre war der Unfall her, als Danelia den Patienten zum ersten Mal sah und das Foto aufnahm. „Sechs Jahre lang verließ er aus Scham sein Zimmer kaum. Keiner konnte ihm helfen.“ Danelias Stimme verrät, dass für ihn zwar die Mikroben längst Routine sind, seine Patienten aber keineswegs. „Die Patienten sind das Wichtigste“, sagt er immer wieder. Kein Antibiotikum wirkte bei dem Brandopfer. So ergeht es in Deutschland Tausenden. Der häufige Kontakt mit Antibiotika lässt die Bakterien zunehmend resistent werden. Ausgerechnet in Krankenhäusern lauern besonders viele dieser Keime und befallen eifrig die Wunden, welche Verbrennungen, der Diabetes oder die Skalpelle der Chirurgen hinterlassen haben. Schätzungsweise 20000 Menschen sterben jährlich nach einer Infektion, die sie sich im Krankenhaus geholt haben. Viele davon waren mit resistenten Keimen angesteckt.
Nodar Danelia ist angetreten, diesen Menschen zu helfen. Er besitzt, so ist er fest überzeugt, ein Mittel gegen die Antibiotika-Krise: ein recht exotisches Arzneimittel. Denn der 55-jährige Georgier hat es nicht in einem Gentechniklabor entwickelt, sondern aus dem untergegangenen Sowjetreich mitgebracht. Notorisch knapp an Antibiotika, kultivierten die Sowjets eine Methode aus der Frühzeit der Bakteriologie, die im Westen längst vergessen war: Sie behandelten Infekte mit besonderen Viren, die zwar Bakterien attackieren, nicht aber Menschen. Weil die Wissenschaft die Bakterienfresser Bakteriophagen nennt, heißt die urtümliche Methode Phagentherapie.
Auf seinem Laptop hat Danelia eine Präsentation mit Tabellen, Grafiken und Fotos gespeichert, die die Wirksamkeit der Phagentherapie darlegt. Sie berichtet von neun Fällen, die er im Jahr 1999 an der MHH behandelt hat. Da die Phagen hierzulande nicht als Arzneimittel zugelassen sind, dürfen sie nur in Notsituationen und mit Zustimmung des Patienten eingesetzt werden. Stolz vermerkt Danelia, dass die Phagen sieben von neun Kranken heilen konnten. Einer davon war der 27-Jährige mit dem verbrannten Oberkörper. „Drei Tage nach Beginn der Behandlung verzog sich der Gestank, weil die Bakterienzahl drastisch abnahm“, sagt Danelia. Das Bild von dem geheilten Körper seines Patienten zeigt er sichtlich gern.
Sein Lieblingsbild aber ist eine Elektronenmikroskop-Aufnahme, die die Schlagkraft seiner Phagen dokumentiert. Aus einem geborstenen Bakterium quellen Dutzende eigenartiger Gesellen mit kugeligem Kopf und den Tentakeln eines Kraken: neugeborene Phagen, die in nur 30 Minuten im Opfer herangewachsen sind. „Jeder Phage heftet sich mit den Tentakeln sofort an das nächstbeste Bakterium und injiziert das Erbgut aus seinem Kopf in dessen ,Körper‘. Das eingedrungene Phagenerbgut programmiert den Stoffwechsel seines Opfers um. Statt Bakterieneiweiße werden nun Phageneiweiße produziert. Zum Schluss gruppieren sich diese Bausteine zu fertigen Phagen, und das Bakterium platzt“, redet sich Danelia in Hitze. Auch 30 Jahre Bekanntschaft mit den Phagen hat seine Begeisterung für ihre eiskalte Effizienz nicht geschmälert.
Doch die meisten westlichen Ärzte beäugen die Phagenmedizin skeptisch: Was kann vom Osten denn schon Gutes kommen? Danelia, der seit 1997 versucht, die Phagentherapie in Deutschland anzuwenden, bekommt das zu spüren. Abschrecken lässt er sich davon nicht. Beharrlich verfolgt er sein Ziel, redet mit Ärzten, sucht Geld für seine neue Firma. „Widerstand gegen Neues ist bei Ärzten normal“, sagt er, und: „Die müssen nur mal mit mir zusammenarbeiten.“ Und tatsächlich sagt etwa Alfred Berger, der emeritierte Leiter der Klinik für Plastische, Hand- und Wiederherstellungschirurgie der MHH: „Die Phagentherapie funktionierte überraschend gut bei den Patienten, bei denen wir sonst keine Lösung hatten. Angesichts der Resistenzprobleme ist das ein interessanter Ansatz.“ Langsam sieht Danelia Land: „Bei Kongressen werde ich immer öfter von Ärzten angesprochen.“ Und mit dem Chirurgen Maximilian Pichlmaier von der MHH arbeitet er seit einiger Zeit fest zusammen. Vom Erfinderzentrum Norddeutschland des Landes Niedersachsen hat er eine erste Finanzierung erhalten. Bestätigung bekommt er von Instituten und Firmen in den USA, Kanada oder Israel, die nun auch an der Phagentherapie forschen.
„Das Leben begann bei null“
Die Quellen dieser Beharrlichkeit liegen wohl in seiner Geschichte. Bevor Danelia sich aufmachen konnte, die Phagentherapie in Deutschland zu etablieren, musste er sich erst ein neues Leben aufbauen. Seine erste Existenz in Georgien wurde 1992 in den Wirren nach dem Zusammenbruch der UdSSR zerstört. Getreu dem russischen Sprichwort, wonach ein Mann für ein erfülltes Leben drei Dinge tun müsse, hatte er im Schwarzmeerbadeort Gagra ein Haus gebaut, zwei Söhne gezeugt und einen Baum gepflanzt. Danelia war Chefarzt. Sobald Michail Gorbatschow es erlaubte, machte er sich selbstständig. Dann kam der August 1992. „Ich machte Urlaub bei Verwandten meiner deutschstämmigen Frau in Bad Pyrmont, als in Georgien der blutige Krieg um Abchasien ausbrach“, erzählt er. Zwei Wochen hörte er nichts von seiner Familie, die dort geblieben war. „Es war die schlimmste Zeit meines Lebens.“ Nach vier Monaten bangen Wartens schaffte die Familie es nach Deutschland. Alle waren sicher. „Aber das Leben begann wieder bei null.“ Der erfahrene Chirurg musste darum kämpfen, dass sein Examen anerkannt wurde, arbeitete als Gastarzt ohne Gehalt in Bad Pyrmont, dann an der MHH. „Da dachte ich das erste Mal wieder an die Phagen“, erinnert er sich. „Wir hatten oft Patienten mit Infekten, bei denen nichts mehr half. Als gleichzeitig sechs Kranke mit resistenten Staphylokokken auf der Station lagen, besorgte ich Phagen in Georgien, und wir legten los.“
Ein Jahr lang hatte er seinen Kollegen von den Talenten der Phagen erzählt, bis sie zu den Versuchen bereit waren. Ihre anfängliche Skepsis ist verständlich. In der Sowjetunion wurden zwar Millionen von Menschen mit Phagen behandelt, aber es gab kaum Untersuchungen, die die Wirksamkeit der Methode einwandfrei belegt hätten. Die meisten Studien existieren nur auf Russisch und entsprechen nicht den westlichen Standards.
Die Medikamente, die alsbald aus der georgischen Hauptstadt Tiflis eintrafen, entsprachen auch nicht dem, was ein hiesiger Mediziner von einem Arzneimittel erwartet. Die Konzentration an Wirkstoff – den Phagen – variierte von Charge zu Charge. Dazu enthielt die braune Brühe eine Menge Bakterienreste, die in zu hoher Konzentration das Immunsystem zu gefährlichen Überreaktionen reizen.
Die Bakterientrümmer künden von den kümmerlichen Verhältnissen, in denen die georgischen Forscher heute arbeiten. In den guten Zeiten wurden die Phagen nach der Vermehrung in der Bakterienkultur sorgfältig gereinigt. „Heute sind die Forscher froh, wenn sie überhaupt arbeiten können“, sagt Danelia. Auf seiner Stirn wölben sich Zornesfalten: Zorn auf die Politiker, die seine Heimat durch Korruption zugrunde richten. Die Menschen sind arm, Hunderttausende haben das Land verlassen. Im zerfallenden Tifliser Phageninstitut arbeiten noch 70 Menschen, früher waren es 1200.
Phagen nach deutscher Vorschrift
Seit den kruden Anfängen 1997 hat sich einiges verändert. Zweimal hat Danelia die Freunde aus Tiflis für einige Monate nach Hannover eingeladen, um neue Phagen zu suchen. Denn anders als Antibiotika, die meist eine breite Palette an Keimen abtöten, attackiert ein bestimmter Phage nur eine Bakterienart oder gar nur eine Untergruppe. So kann es sein, dass Phagen, die die Staphylokokken eines Patienten in Tiflis verputzen, jene eines Kranken in Hannover völlig in Ruhe lassen. Manchmal werden Bakterien auch resistent gegen einzelne Phagen. Darum muss Danelia vor der Behandlung testen, ob einer oder eine Kombination seiner Phagen die fraglichen Bakterien angreifen. „Ist das nicht der Fall, isolieren wir neue“, sagt er. „Am einfachsten findet man die richtigen Phagen im Abwasser des Krankenhauses, in dem die Patienten liegen.“
Mittlerweile kommen die Phagen, die Danelia verwendet, nicht mehr aus Georgien, sondern aus einer deutschen Pharmafabrik, die sie nach hiesigen Vorschriften in Kleinserie produziert. Und nun peilt der Arzt den nächsten Schritt an: die Zulassung als reguläres Medikament. Eine teure Hürde: Denn dafür muss er bei einer bestimmten Infektart die Wirksamkeit und Sicherheit der Therapie an vielen Patienten beweisen. Er weiß natürlich, dass das Gesetz diesen Beweis verlangt. Doch manchmal bricht der Praktiker in ihm durch, der mehr auf lange Erfahrung setzt als auf trockene Statistiken. Haben die Phagen in Georgien nicht unzählige Male unter seinen Händen ihre Magie entfaltet? Eitrige Rippenfelle, Lungenentzündungen, Ohrenentzündungen – alles geheilt. Oder die Stichverletzung eines Mannes, der nach einer Messerstecherei eingeliefert wurde. „Ich nahm Magen und Gedärme heraus und spülte sie mit Phagenlösung, um eine Infektion zu verhindern“, sagt Danelia, die Hände in der Luft. Die eine hält einen imaginären Dickdarm, die andere wäscht ihn mit Virenlösung ab. Der Verletzte hatte natürlich keine Infektion nach der Phagenwäsche? „Ja, was meinen Sie denn?“
Eine Minute später gewinnt der Wissenschaftler in ihm die Oberhand. Wieder in ruhigem Ton skizziert er den Versuch, den er in wenigen Monaten als ersten Schritt zum Zulassungsprozedere starten will. Als Partner dabei ist Chirurg Pichlmaier. Noch fehlt die endgültige Finanzierungszusage einer Partnerfirma, die Bewilligung der Ethikkommission und eine letzte genetische Analyse der Phagen, die sie verwenden werden. Behandeln wollen Danelia und Pichlmaier zuckerkranke Menschen, die wegen ihrer Krankheit an offenen und infizierten Füßen leiden. Jährlich wird deswegen 28000 Kranken in Deutschland ein Fuß amputiert. Doch diese Studie soll nur „das Eis für die Phagentherapie brechen“. Nach dieser Pflicht wartet auf die beiden die Kür, jene Einsatzgebiete, die sie wirklich reizen. So möchte Pichlmaier die Therapie für jene schweren Fälle etablieren, mit denen er es als Gefäßchirurg tagtäglich zu tun hat: Patienten, die wegen verstopfter Gefäße neue Arterien brauchen. „Wenn da nach dem Einpflanzen der Prothese eine resistente Infektion auftritt, haben wir massive Probleme“, sagt er. Oft muss das künstliche Gefäß in weiteren Operationen ausgewechselt werden. Das überleben manche geschwächte Patienten nicht. „Wenn wir infizierte Prothesen im Körper des Patienten mit Phagen sterilisieren könnten, müssten wir sie nicht auswechseln“, sagt Pichlmaier. „Damit würden wir die Lehrbücher der Chirurgie neu schreiben.“
Buchhinweis: Am 10. September erscheint von Thomas Häusler das Buch „Gesund durch Viren“ (Piper Verlag). Es zeichnet die wechselvolle Geschichte der Phagentherapie nach und beleuchtet die Anstrengungen westlicher Forscher, die Methode wieder einzusetzen
Nodar Danelia hat in der ehemaligen UdSSR eine besondere Methode der Bakterienbekämpfung gelernt: Statt Antibiotika setzt er spezielle Viren ein, so genannte Phagen. Diese attackieren Bakterien, indem sie ihre DNA einschleusen (siehe oben). Jetzt will Danelia von diesem Verfahren auch seine deutschen Kollegen überzeugen
Mehr: swr.de (pdf)
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