(zeit.de) Ein Gewaltskandal in Gefängnissen überschattet den georgischen
Wahlkampf. Der Präsident spricht von Intrige. Doch die Bürger glauben
ihm nicht mehr.
© Vano Shlamov/AFP/GettyImages |
Auch wenn der Himmel über Tiflis in hellem Blau strahlt und die
Septembersonne mild scheint, ist die Atmosphäre in der georgischen
Hauptstadt aufgewühlt wie bei einem gewaltigen Herbststurm.
Verunsichert, angespannt, aber auch wütend und ermutigt trifft man die
Menschen derzeit in Georgien an.
Denn der Ausgang der Parlamentswahl am Montag ist offen. Erstmals
seit der Rosenrevolution 2003 kann die Regierungspartei Vereinigte
Nationale Bewegung von Präsident Michail Saakaschwili nicht mit einem
sicheren Sieg rechnen. Gestern kamen mehr als 100.000 Menschen zur Abschlusskundgebung seines politischen Gegners, des Multi-Milliardärs Bidsina Iwanischwili. Es war die größte Demonstration seit der Rosenrevolution.
Iwanischwili vereinigt in seinem Bündnis "Georgischer Traum" sechs
Oppositionsparteien, darunter sehr verschiedene gesellschaftliche
Gruppen. Zu ihnen zählen westlich orientierte Politiker wie Irakli
Alasania, der die Regierung 2008 verließ. Sie wollen eine ausgewogenere
Machtbalance im Staat, den derzeit die Regierungspartei dominiert. Zudem
wollen Politiker wieder mitbestimmen, die wichtige Positionen unter
Saakaschwilis Vorgänger Eduard Schewardnadse innehatten. Viele ältere
Menschen in den Städten und die Bauern auf dem Land erhoffen sich
soziale Unterstützung vom Staat. Sie hoffen, der Milliardär werde sein
Geld weiter zum Wohle Georgiens einsetzen. Dies hatte er in den
vergangenen acht Jahren im Verborgenen getan, bis er im Herbst 2011
offen mit der Regierung brach und ihr den Kampf ansagte.
Doch Iwanischwilis plötzliches Auftauchen und seine ersten,
ungeschickten Schritte als Neu-Politiker sorgten auch für Skepsis. Sein
Vermögen hatte er in den neunziger Jahren in Russland gemacht. So lag es
nahe, dass die Regierung den Multi-Milliardär als Handlanger des
verfeindeten Nachbarn darstellte. Sie wirft ihm und seinen Getreuen
zudem vor, rückwärts gewandt zu sein und Stimmung gegen die religiösen
und nationalen Minderheiten im Staat zu machen. Tatsächlich sprach sich
Iwanischwilis Kandidat für die Region Adscharien, Murman Dumbadze,
zuletzt gegen den Bau von Moscheen aus.
Die Aussichten für Iwanischwilis Bündnis wären nicht so gut, hätte
die Regierung nicht selbst für Unzufriedenheit und am Ende für offene
Wut gesorgt. Viele fanden es überzogen, Iwanischwili den georgischen
Pass zu entziehen und mit enorm hohen Geldstrafen zu belegen. Zahlreiche
Berichte belegen, dass Staatsbedienstete mit Sympathien für die
Opposition unter Druck gesetzt und entlassen wurden.
Der gärende Unmut bahnte sich einen Weg in die Öffentlichkeit, als
die oppositionellen Fernsehsender TV9 und Maestro vor fast zwei Wochen Videos über Misshandlungen von Gefängnisinsassen zeigten.
Zwar reagierte die Regierung schnell. Sie gestand ein grundlegendes
Gewaltproblem in den Haftanstalten ein und setzte den Ombudsmann Giorgi
Tugushi als Gefängnisminister ein. Er hatte die Probleme seit Langem
thematisiert, war aber nicht gehört worden.
Doch zugleich setzte eine regelrechte Schlacht mit kompromittierenden
Videos auf beiden Seiten ein. Saakaschwili warf der Opposition vor, sie
habe Wärter geschmiert, damit sie Gewaltvideos anfertigten. Weitere
Filme und Audioaufnahmen sollen belegen, dass auch Polizisten und
Offiziere bestochen werden sollten. Auch würde die Regierung der
Opposition gerne nachweisen, dass sie mit den berüchtigten "Dieben im
Gesetz" paktiert, und gemeinsam mit dem kriminellen Netzwerk aus
Sowjetzeiten die Destabilisierung des Landes plant.
Andere Videos zeigen wiederum Regierungsmitglieder mit einst
einflussreichen Persönlichkeiten, wie sie ihre Machtbereiche abstecken.
Über all dem gerieten die eigentlichen Wahlthemen in Vergessenheit.
Gleichsam redet niemand über den Modernisierungsfortschritt, den das
Land seit 2004 zu verzeichnen hat.
Die Stimmung schlug stattdessen in den vergangenen Tagen um. Immer
offener zeigten die Menschen bei täglichen Demonstrationen Unmut.
Zumeist schlossen sie sich den Protesten der Studentenbewegung
"Laboratorium 1918" an, die sich ausdrücklich als unabhängig bezeichnet
und sozialdemokratische Ideen vertritt.
Khatia Nadaraia, eine der Organisatorinnen, sagt: "Es gibt in
Georgien große soziale Ungerechtigkeit, die wollen wir bekämpfen." Mit
ihrem Mitstreiter Tornike Chumburidze stimmt sie darin überein, dass
Gewalt ein Teil des Regierungssystems sei. "Es ist der politische Wille
unserer Regierung, nicht nur Gewalt gegen Häftlinge einzusetzen, sondern
auch Kritiker unter Druck zu setzen."
Als Beispiel führen sie an, dass regierungskritische Studenten
geschlagen wurden von Kommilitonen, die der Regierungspartei nahe
stehen. Unabhängig davon, ob bei der Wahl Saakaschwilis Partei oder
Iwanischwilis Bündnis gewinnt, wollen sie weiter für soziale
Gerechtigkeit und gegen repressiven Druck der Staatsführung
protestieren.
Von Saakaschwili erwarten sie nichts Gutes mehr. Sie sind sich aber auch nicht sicher, ob Iwanischwili es besser machen wird.
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