Sunday, September 30, 2012

PARLAMENTSWAHL IN GEORGIEN: Saakaschwili, ein Milliardär und der Kampf um die Wahrheit. Von Silvia Stöber (zeit.de)

(zeit.de) Ein Gewaltskandal in Gefängnissen überschattet den georgischen Wahlkampf. Der Präsident spricht von Intrige. Doch die Bürger glauben ihm nicht mehr.

Georgiens Präsident Michail Saakaschwili während einer Wahlveranstaltung in Tiflis
© Vano Shlamov/AFP/GettyImages
Auch wenn der Himmel über Tiflis in hellem Blau strahlt und die Septembersonne mild scheint, ist die Atmosphäre in der georgischen Hauptstadt aufgewühlt wie bei einem gewaltigen Herbststurm. Verunsichert, angespannt, aber auch wütend und ermutigt trifft man die Menschen derzeit in Georgien an.

Denn der Ausgang der Parlamentswahl am Montag ist offen. Erstmals seit der Rosenrevolution 2003 kann die Regierungspartei Vereinigte Nationale Bewegung von Präsident Michail Saakaschwili nicht mit einem sicheren Sieg rechnen. Gestern kamen mehr als 100.000 Menschen zur Abschlusskundgebung seines politischen Gegners, des Multi-Milliardärs Bidsina Iwanischwili. Es war die größte Demonstration seit der Rosenrevolution.

Iwanischwili vereinigt in seinem Bündnis "Georgischer Traum" sechs Oppositionsparteien, darunter sehr verschiedene gesellschaftliche Gruppen. Zu ihnen zählen westlich orientierte Politiker wie Irakli Alasania, der die Regierung 2008 verließ. Sie wollen eine ausgewogenere Machtbalance im Staat, den derzeit die Regierungspartei dominiert. Zudem wollen Politiker wieder mitbestimmen, die wichtige Positionen unter Saakaschwilis Vorgänger Eduard Schewardnadse innehatten. Viele ältere Menschen in den Städten und die Bauern auf dem Land erhoffen sich soziale Unterstützung vom Staat. Sie hoffen, der Milliardär werde sein Geld weiter zum Wohle Georgiens einsetzen. Dies hatte er in den vergangenen acht Jahren im Verborgenen getan, bis er im Herbst 2011 offen mit der Regierung brach und ihr den Kampf ansagte.

Doch Iwanischwilis plötzliches Auftauchen und seine ersten, ungeschickten Schritte als Neu-Politiker sorgten auch für Skepsis. Sein Vermögen hatte er in den neunziger Jahren in Russland gemacht. So lag es nahe, dass die Regierung den Multi-Milliardär als Handlanger des verfeindeten Nachbarn darstellte. Sie wirft ihm und seinen Getreuen zudem vor, rückwärts gewandt zu sein und Stimmung gegen die religiösen und nationalen Minderheiten im Staat zu machen. Tatsächlich sprach sich Iwanischwilis Kandidat für die Region Adscharien, Murman Dumbadze, zuletzt gegen den Bau von Moscheen aus.

Die Aussichten für Iwanischwilis Bündnis wären nicht so gut, hätte die Regierung nicht selbst für Unzufriedenheit und am Ende für offene Wut gesorgt. Viele fanden es überzogen, Iwanischwili den georgischen Pass zu entziehen und mit enorm hohen Geldstrafen zu belegen. Zahlreiche Berichte belegen, dass Staatsbedienstete mit Sympathien für die Opposition unter Druck gesetzt und entlassen wurden.

Der gärende Unmut bahnte sich einen Weg in die Öffentlichkeit, als die oppositionellen Fernsehsender TV9 und Maestro vor fast zwei Wochen Videos über Misshandlungen von Gefängnisinsassen zeigten. Zwar reagierte die Regierung schnell. Sie gestand ein grundlegendes Gewaltproblem in den Haftanstalten ein und setzte den Ombudsmann Giorgi Tugushi als Gefängnisminister ein. Er hatte die Probleme seit Langem thematisiert, war aber nicht gehört worden.

Doch zugleich setzte eine regelrechte Schlacht mit kompromittierenden Videos auf beiden Seiten ein. Saakaschwili warf der Opposition vor, sie habe Wärter geschmiert, damit sie Gewaltvideos anfertigten. Weitere Filme und Audioaufnahmen sollen belegen, dass auch Polizisten und Offiziere bestochen werden sollten. Auch würde die Regierung der Opposition gerne nachweisen, dass sie mit den berüchtigten "Dieben im Gesetz" paktiert, und gemeinsam mit dem kriminellen Netzwerk aus Sowjetzeiten die Destabilisierung des Landes plant.

Andere Videos zeigen wiederum Regierungsmitglieder mit einst einflussreichen Persönlichkeiten, wie sie ihre Machtbereiche abstecken. Über all dem gerieten die eigentlichen Wahlthemen in Vergessenheit. Gleichsam redet niemand über den Modernisierungsfortschritt, den das Land seit 2004 zu verzeichnen hat.

Die Stimmung schlug stattdessen in den vergangenen Tagen um. Immer offener zeigten die Menschen bei täglichen Demonstrationen Unmut. Zumeist schlossen sie sich den Protesten der Studentenbewegung "Laboratorium 1918" an, die sich ausdrücklich als unabhängig bezeichnet und sozialdemokratische Ideen vertritt.

Khatia Nadaraia, eine der Organisatorinnen, sagt: "Es gibt in Georgien große soziale Ungerechtigkeit, die wollen wir bekämpfen." Mit ihrem Mitstreiter Tornike Chumburidze stimmt sie darin überein, dass Gewalt ein Teil des Regierungssystems sei. "Es ist der politische Wille unserer Regierung, nicht nur Gewalt gegen Häftlinge einzusetzen, sondern auch Kritiker unter Druck zu setzen."

Als Beispiel führen sie an, dass regierungskritische Studenten geschlagen wurden von Kommilitonen, die der Regierungspartei nahe stehen. Unabhängig davon, ob bei der Wahl Saakaschwilis Partei oder Iwanischwilis Bündnis gewinnt, wollen sie weiter für soziale Gerechtigkeit und gegen repressiven Druck der Staatsführung protestieren.

Von Saakaschwili erwarten sie nichts Gutes mehr. Sie sind sich aber auch nicht sicher, ob Iwanischwili es besser machen wird.

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