(tagesschau.de) Georgien stehen ungewisse Tage bevor. Am Montag wird ein neues Parlament gewählt, Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus. Kürzlich veröffentlichte Videos mit Gewaltszenen lösten unterdessen im ganzen Land Proteste aus. Zur Kundgebung von Oppositionsführer Iwanischwili heute kamen Zehntausende.
Von Silvia Stöber, tagesschau.de, Tiflis
Blau ist die Farbe des Tages in Georgiens Hauptstadt Tiflis. Der Himmel strahlt spätsommerlich. Die Sonne wirft ihr Licht auf Tausende Menschen in blauen T-Shirts, blauen Fahnen und Halstüchern, darauf das sternähnliche Symbol des Oppositionsbündnisses "Georgischer Traum". Sie strömen aus allen Richtungen zum zentralen Freiheitsplatz. Der mehr als ein Kilometer lange Rustaveli-Prospekt ist voller Menschen.
Als der Oppositionspolitiker und Milliardär Bidsina Iwanischwili die Bühne auf dem Freiheitsplatz betritt, brandet Jubel auf. "Bidsina!"-Rufe hallen über den Platz. Er antwortet "Sakartwelos Gaumardjos! - Siegreiches Georgien!" Doch dann hält er inne. Bodyguards schirmen ihn hinter dem ohnehin vorhandenen Sicherheitsglas ab. Seine beiden Söhne und seine Frau verlassen die Bühne. Ein Drohne nähert sich einige hundert Meter entfernt dem Freiheitsplatz, dreht ab und kommt kurze Zeit später wieder - ganz sicher ein Gruß der Regierung.
"Gewalt ist Teil des Systems"
Dann setzt Iwanischwili seine Rede unbeirrt fort. Er schimpft auf den amtierenden Präsidenten Michail Saakaschwili und verspricht ein besseres Leben, wenn sein Bündnis am Montag die Parlamentswahl gewinnt. Tatsächlich änderte sich die Stimmung in den vergangenen Tagen noch einmal. Es tauchten Videos auf, die Misshandlungen von Gefängnisinsassen zeigten. Sie lösten einen Schock in der Bevölkerung aus. Plötzlich begannen die Menschen über dieses lange totgeschwiegene Thema zu sprechen, fast täglich versammelten sie sich zum Protest auf den Straßen.
Zehntausende Anhänger des Oppositionsbündnisses "Georgischer Traum" jubeln Saakaschwili-Herausforderer Bidsina Iwanischwili zu. (Foto: dpa) |
"Gewalt ist Teil des Systems. Es gibt sie nicht nur in den Gefängnissen, sie wird in der ganzen Gesellschaft angewandt. Es wurden zum Beispiel regierungskritische Studenten von anderen Studenten geschlagen, die der Regierung nahestehen", erklärt Khatia Nadaraia. Sie gehört zur Studentengruppe "Laboratoria 1918", die seit zwei Wochen Proteste organisiert. Zwar reagierte die Regierung schnell auf den Gefängnisskandal, ließ Verdächtige festnehmen, setzte den Ombudsmann als neuen Gefängnisminister ein und gestand Fehler ein. Doch dann warf Präsident Saakaschwili der Opposition vor, sie habe Wärter und Gefängnisinsassen für die Herstellung der Videos bezahlen lassen.
Iwanischwili hat dazugelernt
Der eigentlich öffentlichkeitsscheue Neu-Politiker Iwanischwili hat inzwischen dazugelernt. Seine Rhetorik verbesserte sich. Zum Wahlkampfauftakt im April sprach er verhalten, in den langen Pausen herrschte Stille auf dem Freiheitsplatz. Doch nun, fünf Monate später, gelingt es ihm, die Menschen mitzureißen. Immer wieder unterbricht er seine Rede, reckt die Faust und ruft "Sakartwelos!", stimmgewaltig kommt die Antwort vom Platz: "Gaumardjos". Im Sperrbereich zwischen Bühne und Publikum stehen einige seiner US-Berater, unter ihnen Ex-US-Botschafter John Kornblum, der Iwanischwilis Bündnis in Europa vertritt.
Einiges hat sich seit dem Wahlkampfauftakt im April geändert: Es sind noch mehr Menschen gekommen, und sie schwenken fast ausschließlich die blauen Fahnen des Bündnisses. Verschwunden sind die NATO- und EU-Fahnen, und es gab kaum mehr georgische Flaggen.
Saakaschwili spricht von leeren Rängen
Diese weißen Flaggen mit den roten Georgs-Kreuzen dominierten dagegen den gestrigen Wahlkampfabschluss der Regierungspartei "Vereinigte Nationale Bewegung". Sie fand ganz im Stile von US-Parteiveranstaltungen im Fußballstadion von Tiflis statt. Auch dort hallten die "Sakartwelos Gaumardjos!"-Rufe. Beim Anblick zweier gewaltiger georgischer Flaggen, die Jugendliche hereintrugen, begannen die Zuschauer frenetisch zu jubeln. Als Präsident Saakaschwili schließlich 80 Minuten später als geplant ans Rednerpult trat, schienen viele Menschen mit ihrer Geduld am Ende. Noch während er sprach, begann sich das Stadion zu leeren. Aus den Blicken von Saakaschwilis Anhängern sprach keine Siegesgewissheit, eher Angespanntheit.
Am Montag steht dem Land eine Wahl mit ungewissem Ausgang bevor. Die letzten - unzuverlässigen - Umfrageerbnisse lassen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Regierungspartei und Iwanischwilis Bündnis erwarten. Offen ist, ob die Bevölkerung das Ergebnis akzeptieren wird, das nach Schließung der Wahllokale bekannt gegeben wird.
No comments:
Post a Comment