(dradio.de) Mit dem Buch "Das grüne Zelt" hat die russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja einen Epochenroman vorgelegt. Er beginnt mit dem Tod Stalins 1953, Exkurse reichen aber weit in die Geschichte zurück. Das Besondere liegt in der Privatheit, in der Ulitzkaja große Begebenheiten erzählt.
Mit dem Tod Josef Stalins beginnt der Roman. (Bild: AP) |
Das etwas unscharf definierte Genre des Epochenromans ist gewiss ein problematisches Etikett. Aber wenn man nach einer Bezeichnung für diesen Text sucht, kommt man kaum daran vorbei. Und das nicht nur, weil von Lew Tolstois "Krieg und Frieden" darin die Rede ist, ebenso von Puschkin, Dostojewski, Turgenjew, bis hin zu Bunin, Nabokov oder Brodsky. Und Mozart und Beethoven, Prokofjew, Schostakowitsch und Schnittke kommen auch drin vor. Und Wygotski und Wyssotzki und, und, und …
Mit all diesen Namen ist recht eigentlich eine Sozialisation beschrieben, ein Milieu: die russische (oft russisch-jüdische) Intelligenzija, und wenn das Wort vom Epochenroman so unausweichlich erscheint, dann darum, weil dieser Roman ziemlich exakt die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts abbildet. Er tut dies aus der Perspektive dieser sehr speziellen und so vielleicht nur in Russland vorkommenden Schicht: gebildet, auf welchem Spezialgebiet auch immer, in der Regel alles andere als wohlhabend, dabei durchdrungen von einem wahren Hunger nach Kultur, nach einem alternativen Denken, das die hohlen Phrasen der Sowjetideologie verspottet und verachtet und nach wahren Werten sucht.
Das führt direkt in die Dissidenz, und es fehlt im Grunde nicht an dokumentarischen oder halbliterarischen Darstellungen dieser Szene. Jedoch sind diese Texte üblicherweise um konkrete und prominente Figuren und Ereignisse des Geschehenen zentriert (Pasternak, Solschenizyn, Sinjawski, Daniel), manchmal als Memoiren oder Autobiografien von ihnen selbst oder von Personen aus ihrem engeren Umfeld verfasst.
Bei Ljudmila Ulitzkaja ist das anders. Alle in diesem Roman auftauchenden großen Namen treten als handelnde Personen nicht in Erscheinung. Sie sind anwesend als Bezugsgrößen für die eigentlichen Romanfiguren. Deren Texte und Werke man einander empfiehlt und die man dann diskutiert, die man durch Abtippen im Freundeskreis verbreitet (der berühmte Samisdat), derentwegen man Behinderungen und Repressalien, Gefahren auch, in Kauf nimmt.
Drei Freunde, Ilja, Sanja und Micha, bilden den Ausgangspunkt der Geschichte(n). In ihrer Schulklasse wird jeder von ihnen als Sonderling angesehen und angefeindet, ein Umstand, der das Trio umso enger vereint. Der Roman setzt ein, als Stalin 1953 stirbt, familienhistorische Exkurse reichen gelegentlich in der Zeit aber noch weiter zurück. Anhand der unterschiedlichen Lebensschicksale, die aber immer wieder aufeinander treffen, und natürlich unter Einbeziehung einer großen Zahl weiterer Personen wie Eltern, Frauen, Kinder, Freunde, Lehrer wird dieses enge Erzählgeflecht vor dem Hintergrund dieser "verdeckten", untergründigen Geschichte geknüpft, die sich meist in privaten Räumlichkeiten, in intimem Kreis abspielt.
In dieser Privatheit, die ihren äußeren Rahmen gleichsam miterzählt, liegt das Besondere dieses Romans. Und im vollkommen ausgereiften Ulitzkaja-Ton, in dem sie selbst tragische Ereignisse wie Verhaftungen, Verhöre, Exil oder Tod ohne jede gefühlige Larmoyanz, eher mit distanzierter, leicht ironischer Wärme nachbildet und kunstvoll arrangiert. Ein großartiger Einblick in die inneren Strukturen des russischen 20. Jahrhunderts!
Besprochen von Gregor Ziolkowski
Ljudmila Ulitzkaja: Das grüne Zelt
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Carl Hanser Verlag, München 2012
592 Seiten, 24,90 Euro
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