Sunday, September 30, 2012

KOMMENTAR: Tschorwila im Prozess der Zivilisation. Über Gemeinsinn und Prospektive in Georgien. Von Dr. Frank Tremmel


(facebook.com) Der Wahlkampf in Georgien nähert sich seinem Ende, der Wahltag steht vor der Tür. Furcht und Hoffnung, Agonie und neuer Aufbruch prägten die Stimmungslage der letzten Wochen. Die Vertreter der Regierung präsentierten ihre sattsam bekannten Phrasen, die vor dem Hintergrund furchtbarer Bilder aus den georgischen Gefängnissen nur noch hohler wirkten.  Keimhaft zeigten sich aber auch die Ansätze einer neuen Perspektive. Das Alte und das Neue sind, wie immer in der Geschichte, bis zur Unkenntlichkeit ineinander verschlungen. Produktive, zukunftsweisende Verbindungen zeichnen sich erst konturhaft ab. Das galt und das gilt für beide großen politischen Gruppierungen, die sich zur Wahl stellen. Der Enthusiasmus, der in der Rosenrevolution 2003 die tieferen Aspirationen des georgischen Volkes mit einem neuen politischen Projekt verband, sucht erneut nach seinem Ausdruck. Die heute herrschenden Apologeten des Thermidors möchten uns weißmachen, dass sich Georgien fraglos in den modernen Zivilisationsprozess eingegliedert hat und die gegenwärtige Krise nur ein vorübergehendes Adaptionsproblem sei. Die Opposition dagegen artikuliert vorerst vor allem die fundamentale Entfremdung großer Teile der Bevölkerung, die nach neuen politischen Wegen sucht. Im Regierungslager zeichnen sich erste Zersetzungserscheinungen ab, aber auch die Opposition ist bislang noch zu heterogen in ihren Zielsetzungen, um eine neue Prospektive zu begründen. Mit zwei grundlegenden Tendenzen ist aber in Zukunft sicher zu rechnen: Zum einen hat sich das Projekt der Regierung erschöpft und zum anderen findet der Promotor der neuen Opposition in immer höherem Maße seinen eigenen Stil und seine eigene Sprache. Bislang ist es nur ein Name, der aber bereits in den großen Metropolen Westeuropas und der USA genannt wird, Bidsina Iwanischwili. Mehr und mehr verbindet er sich nun mit den vitalen Triebkräften des georgischen Volkes, wie sie sich am 29. September auf dem Freiheitsplatz in hundertausendfacher Gemeinsamkeit manifestiert haben. Es dieser Gemeinsinn der Georgier, der sein Projekt für das 21. Jahrhundert sucht und darauf hofft, dass Bidsina Iwanischwili es zu artikulieren weiß. Es ist vielleicht kein Zufall, dass ein Mann der Wirtschaft, ein hervorragender Organisator und Selfmademan, diese Prospektive formulieren muss. „Die Wirtschaft ist unser Schicksal“, dieser oftmals missverstanden Satz des deutschen Industriellen, Politikers und Philosophen Walther Rathenau, gilt mehr denn je. Georgien wird sich allerdings nur dann in den modernen Zivilisationsprozess eingliedern, wenn es dieses Schicksal aus seinen eigenen Traditionen heraus anzunehmen und zu gestalten vermag.

Der britische Historiker Arnold Toynbee hatte  1949 in seinem Buch „Kultur am Scheideweg“ auf die „aufsehenerregende Ungleichheit zwischen den menschlichen Errungenschaften auf dem außermenschlichen und denen auf dem seelischen Gebiet“ hingewiesen und für die Wohlfahrt des Menschen die Bedeutung der psychischen Dimension der zivilisatorischen vorangestellt. Mit dieser Diagnose des modernen Zivilisations- und Wirtschaftslebens stand er nicht alleine. Auch georgische Psychologen und Philosophen haben sich dieser Fragen immer wieder angenommen. Dmitri Uznadze (1886-1950) hat sein ganzes Lebenswerk der engen Verbindung von pädagogischer und psychologischer Anthropologie gewidmet, um so im Rahmen der nationalen Kulturpolitik Georgien einen authentischen und eigenständigen  Platz in der modernen Zivilisationsentwicklung zu verschaffen. Es ist umso erstaunlicher, mit welcher Ignoranz ein Teil der georgischen Intellektuellen und Meinungsführer diese geistige Ressource  behandelt. Neben vielen anderen Faktoren ist dafür vor allem die einseitig literarische und ästhetische Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie sie in der georgischen Intelligentsija immer noch gepflegt wird, verantwortlich. Diese Wissensform dient einer verfehlten Distinktion, die den Zugang zur geistigen Elite auf unzeitgemäße Weise reguliert. Das ist nicht der „Denkstil der modernen Arbeitsgesellschaft“ (Helmuth Plessner), derer die georgische Gesellschaft so dringend bedarf. Die Entwicklung und Humanisierung der modernen Gesellschaft kann nicht durch intellektuellen Snobismus, esoterisches Literatentum und bildungsbürgerliche Arroganz zustande kommen. Eine solche provinzielle Haltung befördert den Zynismus der gegenwärtig herrschenden Kreise.  Es handelt sich um eine Mentalität, die nicht nur in Georgien einen substantiellen Beitrag der humanistischen Bildungskultur zur modernen Zivilisationsentwicklung verhindert. Bidsina Iwanischwili hat vor etwas weniger als einem  Jahr in einem Fernsehinterview eine objektive Ethik angemahnt, die sich weniger auf ein Sollen als vielmehr auf ein Können bezieht. Ansätze dazu finden wir bereits bei Aristoteles, bei Spinoza, bei  den französischen Moralisten, bei Nietzsche und eben auch bei Freud, den Iwanischwili besonders hervorhob. Als Unternehmer  bevorzugt er eine Perspektive, die vor allem auf Fähigkeiten und nicht allein auf gute Vorsätze schaut. Dass eine solche Perspektive im Übergang von einer betriebswirtschaftlichen Auswahl von Menschen zu caritativen Projekten und erst recht im Übergang zu einem politischen Projekt erweitert werden muss und neue Fragen aufwirft, hat er mehrfach durchaus selbstkritisch betont. Eine „produktive Orientierung“ (Erich Fromm) folgt im Bereich der Kultur und der Politik nicht der gleichen Logik wie in der Sphäre marktkonformer Bedarfsdeckung.  Dennoch bleibt Iwanischwilis grundsätzliche Perspektive völlig richtig und der arrogante Dünkel, mit dem diese Aussagen teilweise in der georgischen Öffentlichkeit bedacht wurden, unangebracht. Für eine Kulturpolitik, die Georgiens authentische Kraftquellen in den Zivilisationsprozess einspeisen will, ist die Erarbeitung einer anthropologischen Grundlage erforderlich, die diese Gedanken aufnimmt.

Bidsina Iwanischwili hat in dem Interview auf die Eigenliebe als gleichsam natürliches Fundament der Ethik  verwiesen. Die Lust das Gute zu tun, der moralische Instinkt, wird in den allermeisten Morallehren, auch in der von Kant, als scheinbar heteronomes Moment  für ethisch irrelevant erklärt. „Gern dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, und so wurmt es mich oft, dass ich nicht tugendhaft bin.“ So hatte Schiller diese Auffassung Kants ironisch kommentiert. Die Einheit von Natur und Geist im authentischen Ausdruck, die der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber in den Mittelpunkt seiner Anthropologie stellte, bleibt methodologisch und politisch die Aufgabe unserer Epoche. Sie kulminiert in der Aufgabe, unser Urteilsvermögen, nach Hannah Arendt die Basis des Politischen, zu entwickeln. Das geschieht nicht, indem wir den Eigennutz des jeweils anderen beklagen. Unser Urteilsvermögen muss sich vielmehr als Wahrnehmung des leiblichen Ausdrucks in der Zeit und im Raum ausbilden. In diesem kommunikativen Prozess bestätigen wir uns gegenseitig unsere personale Integrität. Wir bilden dabei in einem kulturellen Raum historisch und biographisch ein System der Maßverhältnisse zueinander aus, das Iwanischwili am Beispiel der Grenzziehungen in den georgischen Dörfern beschreibt. Diese unbewusste Taxonomie von Nähe und Distanz ist die Grundlage jeder Gemeinschaft. Sie liegt der sozialen Ökologie der Kommunikationsverhältnisse zugrunde. Insofern ist Tschorwila, das Heimatdorf Bidsina Iwanischwilis, der prototypische Ausdruck eines anthropologische Mikrokosmos, den es politisch mit einer globalgeschichtlichen Prospektive zu verbinden gilt. Dieses Wissen, das in unsere Alltagserfahrungen eingebettet ist, wird im Deutschen als „gesunder Menschenverstand“ bezeichnet. Dieses „implizite Wissen“ (Michael Polanyi), diese vorbegriffliche Einsicht in bestimmte elementare Zusammenhänge enthält zweifellos ein konservatives Moment, das sich von den Spezialkenntnissen der Fachwissenschaften und der kritischen Verstandestätigkeit durch eine gewisse natürliche Selbstverständlichkeit unterscheidet. Das Urteilsvermögen, das uns diesen Bereich erschließt, ist der „Sensus Communis“.  Dieser Wissensbereich zeichnet sich als herrschende gesellschaftliche Ansicht durch eine starke Allgemeinheit und einen bestimmten Schematismus der Wahrnehmungen aus.  Er kann als solcher die sich wandelnde, vielfältige und reiche Wirklichkeit immer nur partiell erfassen.  Dieses Vermögen lässt sich andererseits aber auch als unerschöpfliches praktisches Wissen beschreiben. Schematismus und Komplexität sind im Sensus Communis auf eine sehr vielschichtige Weise miteinander verknüpft.

Der deutsche Psychiater Wolfgang Blankenburg (1928-2002) hat am Beispiel der „symptomarmen Schizophrenien“ den pathologischen Zusammenbruch der Verknüpfungsregel beschrieben, die diese natürlichen Selbstverständlichkeit verbürgt. In den Krankengeschichten, die er dabei ausgewertet hat, wurde immer wieder ein furchtbarer Zustand beschrieben, der darin bestand, dass das Selbstverständliche befremdete, dass eine elementare Regel oder Grundlage fehlte, die eine bestimmte Identität der Person garantierte. Das sind keine depressiven Verstimmungen, keine Entfremdungszustände, die ja immerhin etwas Eigenes voraussetzen, von dem wir uns entfremden können. Es fehlt vielmehr der bereits von Aristoteles beschriebene gemeinsame Sinn der fünf Sinne, die elementare Grundvoraussetzung menschlicher Personalität. Ohne diese Fragen hier ausführlich erörtern zu können, möchte ich darauf hinweisen, dass diese Synästhesie unserer sensomotorischen Abläufe heute eine  kultur- und kommunikationspolitische Aufgabe ersten Ranges ist. Die beschriebene Selbstverständlichkeit setzt eine  sinnvolle Vereinheitlichung der verschiedenen Sinnesempfindungen im einzelnen Menschen, ein synthetisches ganzheitliches Wahrnehmungsvermögen voraus. Deutsche Psychologen und Philosophen wie Victor von Weizsäcker, Helmuth Plessner und Ernst Cassirer haben diese Vorgänge immer wieder beschrieben und analysiert. Sie liegen auch unseren Kommunikationsprozessen zugrunde. Die vertrauensbildende und Identität vermittelnde Synästhesie der Wahrnehmungsvorgänge stellt sich heute aber nicht mehr gleichsam naturwüchsig her. Der „Atemraum der großen Treue“ (Martin Buber), diese dialogische Sphäre, in der sich das authentische Sein als Einheit von Natur und Kultur konstituiert, setzt eine Gemeinschaft bzw. einen Ort voraus, der heute nicht mehr allein genealogisch als Familie oder Ethnos vorausgesetzt werden kann, sondern der sich unserer politischen Tätigkeit verdankt. Es ist insofern kein Zufall, dass der Grundbestand an politischer Philosophie bereits in der Antike, d.h. im Übergang von den alten Gentes zur Polis, entstand. Im Auseinandertreten von Gemeinschaft und Gesellschaft, die seither unsere modernen Sozialverhältnisse in noch viel höherem Maße kennzeichnet, ist die Arbeit am Sensus Communis zu einer dauerhaften politischen Aufgabe geworden. Es handelt sich im Grunde um das alte politische und pädagogische Projekt, wie es Schiller in seinen Briefen „Über die ästhetischen Erziehung des Menschen“ (1795) und in seiner Rede „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ (1789) skizzierte. Der „ästhetische Staat“ ist das Projekt einer heute möglichen kommunikativen Verständigung unter den Bedingungen der Globalgeschichte. Sinnlichkeit und Sinn, Gefühl und Form können nur in einer dialogischen und spielerischen, d.h. künstlerischen Weise vereint werden.

Diese kommunikativen und kreativen Akte können aber in unserer Epoche nicht mehr auf den literarisch-künstlerischen Bereich begrenzt werden. Sie sind vor allem in der Sphäre der Ökonomie und der Technologie zu realisieren. Die zentrale ökonomische Sphäre Georgiens ist die Landwirtschaft. Erst wenn die georgischen Intellektuellen ihren Snobismus aufgeben und das Dorf als zentrale kulturelle Produktionsstätte wiederentdecken, wird es gelingen, den modernen Zivilisationsprozess auf ein tragfähiges Fundament zu stellen. Es geht nicht um ein naives Neo-Narodnikitum, wenngleich so mancher moderne georgische Intellektuelle das geistig-moralische Niveau eines Wladimir Korolenko oder eines Niko Nikoladse bei weitem nicht erreicht. Es geht weit prosaischer vielmehr darum, die große Schlüsselqualifikation des sechsten Kondratieffzyklus (Leo A. Nefiedow), die Kooperationsfähigkeit, zu pflegen. Auf der Basis der im vorangegangenen Zyklus geschaffenen computergestützten Kommunikationstechnologie kann so die enorme und einzigartige Biodiversität, der wirkliche gegenständliche Reichtum Georgiens, mit der noch vorhandenen Gemeinschaftskultur und den Kenntnissen der Volks- und Klostermedizin verbunden werden. Die Fragen der Kultur und des Menschseins werden im 21. Jahrhundert erneut entscheidende Bedeutung erlangen. Fragen der physischen und seelischen Gesundheit, der Humanontogenetik und des Zusammenlebens werden bereits die nähere Zukunft bestimmen. Anstatt in Georgien eine kulissenhafte Moderne von gestern aufzubauen, wäre es produktiver, sich an die Spitze eines neuen innovatorischen Zyklus zu stellen und damit eine kreative Verbindung von Kulturbewegung und Zivilsationsprozess in Gang zu setzen. Anstatt den Abstraktionen aus der Schule eines Adam Smith oder eines Karl Marx nachzujagen, wäre es vielversprechender, Alexander W. Tschajanows (1888- 1937/38/39) „Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft“  zu beherzigen und sie in Verbindung mit den Ideen des genialen Konjunkturforschers Nikolai Kondratieff (1892-1938) auf die georgischen Realitäten zu beziehen. Die Einbeziehung von Friedrich Lists (1789-1846) „Nationalem System der politischen Ökonomie“, indem die kulturellen Besonderheiten der  Völker und Regionen Berücksichtigung fanden und seine Fortführungen bei Edgar Salin (1892-1974) u.a., wäre allemal fruchtbarer als die zurzeit vorherrschende unkritische Apologie des Neoliberalismus. Der Aufbau freiheitlicher Basisgemeinschaften, den der deutsche Kultursoziologe Alfred Weber (1868-1958) nach der deutschen Katastrophe anregte, die Forderung nach Fundamentaldemokratisierung und integraler Lokalentwicklung im Sinne der Entwicklungssoziologie eines Richard F. Behrend (1908-1972) entsprechen wohl weit eher den georgischen Gegebenheiten als die abstrakten Modernisierungkonzeptionen der heute herrschenden Gruppierung. „Gemeinde“ als Forschungsfeld, dem in den deutschen aber auch den US-amerikanischen Sozialwissenschaften einmal eine so große Bedeutung zukam,  scheint in Georgien kaum nennenswerter Anstrengungen für wert befunden zu werden. Hier liegen aber die Aufgaben einer Kulturpolitik, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird und der sich jede wirklich zukünftige Regierung in Georgien annehmen müssten.

Wir brauchen heute eine prospektive Anthropologie im Sinne Gaston Bergers (1896-1960), eine Wissenschaft des Werdens, um die Sehnsüchte des georgischen Volkes, wie sie Nikoloz Barataschwili in seinem Gedicht „Gedanken am Ufer der Kura“ zum Ausdruck brachte, mit einem Ziel zu verbinden. Das „leere Gefäß“ kann sich nur füllen, wenn wir der Wahrheit Raum geben, dass  „Kultur nicht Erkenntnis ist, sondern Liebe“, wie uns Berger im Anschluss an André Malraux mitteilt. Auf diesem Wege wären die Aspirationen zu realisieren, die Bidsina Iwanischwili kurz nach seinem Eintritt in die georgische Politik gesprächshalber erörterte. Wenn diese fälschlich als allzu persönlich kritisierten Gedanken sich mit den tiefsten Bestrebungen derjenigen Menschen verbinden, die gestern auf dem Tawisuplebis Moedani ihrem Wollen Ausdruck verliehen, dann wird die Verbindung von Gemeinsinn und Prospektive in Georgien zustande kommen.

1 comment:

Anonymous said...

Selten habe ich so einen verschwurbelten, pseudo-wissenschaftlichen Quatsch gelesen!