(boell.de) Ich werde hier nicht die Einzelheiten der Freilassung Safarows diskutieren. Angemerkt sei lediglich, dass alle Äußerungen von Vertretern des Staates, das Urteil gegen Safarow sei ungerecht gewesen, allenfalls ein Hinweis auf die eigene Unfähigkeit sind, Safarow zu verteidigen. Und was die Bürokraten nun auch immer sagen mögen – das Verbrechen wurde verübt und das Gerichtsurteil ist gesprochen. Ich äußere hier meine persönliche Meinung, wenn ich Safarow zweifellos nicht für einen Helden halte: Bemerkenswerterweise ist die Tat Safarows in den Nachrichten mehrfach mit dem verglichen worden, was Breivik verübt hat. Die Journalisten suchten in diesem Vergleich eine Rechtfertigung für Safarow. Einer solchen Logik zufolge wäre ein Mord etwas ganz anderes als 77 Morde. Auf sinnlose Diskussionen in diese Richtung werde ich mich nicht einlassen, möchte aber zu bedenken geben, dass der Vergleich, an den die Journalisten fast unbewusst appellierten, ein Hinweis ist, dass die „Heldentat“ Safarows selbst bei vielen Hurrapatrioten begründete Zweifel hervorruft, auch wenn diese nicht öffentlich geäußert werden.
Was will uns die aserbaidschanische Regierung mit ihrem Vorgehen sagen?
Wichtiger wäre es über die Botschaft zu sprechen, die wir von der Regierung erhalten haben, und über die Reaktion, die es hierauf in unserer Gesellschaft gegeben hat. Die Regierung hat Safarow nicht einfach nur begnadigt und freigelassen. Sie hat ihn wie einen Helden der Nation empfangen und reich mit Auszeichnungen bedacht, mit Auszeichnungen, wie sie wohl keiner der Veteranen des Karabach-Krieges je erhalten hat. Aus den Äußerungen des zurückgekehrten „Helden“ wird deutlich, dass Safarow sein Verbrechen nicht bereut. Und es hatte wohl auch niemand Reue von ihm erwartet, eher das Gegenteil. Wie man die „mildernden“ Umstände des Verbrechens auch bewerten mag – Safarow ist Flüchtling und hat in den Kriegsjahren Angehörige verloren – Tatsache bleibt, dass die Tat aus nationalem Hass begangen wurde. Klar ist auch, dass der ermordete Offizier persönlich nicht an dem Unglück beteiligt war, das über die Familie Safarow gekommen war.
Was will uns die aserbaidschanische Regierung mit ihrem Vorgehen sagen? Dass sie solcherlei Akte des Hasses und Verbrechen („Heldentaten“) aus nationalistischen Motiven nicht nur rechtfertigt, sondern sie im höchsten Maße für auszeichnungswürdig hält? Was zählt in so einem Falle die Kritik an der bekannten Äußerung des ehemaligen Präsidenten Armeniens über eine „genetische Unvereinbarkeit“ von Aserbaidschanern und Armeniern? Das offizielle Baku hat nun jeden Anlass zu ebensolcher Kritik an uns verwiesen.
Düstere Aussichten für den Friedensprozess im Karabach-Berg-Konflikt
Die zentrale Frage ist jedoch, was nun von den Friedensgesprächen zu erwarten ist. All die Jahre hatte die Zivilgesellschaft begründete Zweifel angemeldet und auf den imitativen Charakter dieser Gespräche hingewiesen. Müssen wir jetzt davon ausgehen, dass die Zeit der Imitation vorbei ist, dass uns ein weiterer blutiger Konflikt erwartet? Und zwar ein offener und gnadenloser Konflikt? Sollen wir etwa noch annehmen, dass die Regierungen – die aserbaidschanische wie die armenische – alles in ihrer Macht stehende getan haben, um einen neuen Konflikt zu verhindern, einen Weg zu finden, den Tod vieler Tausender auf dem Schachtfeld zu vermeiden? Die jüngsten Ereignisse legen uns auf diese Fragen eine negative Antwort nahe. Man könnte gar meinen, dass die aserbaidschanische Regierung bewusst für eine Zuspitzung der Situation gesorgt hat. Die Bereitschaft, mit der auf armenischer Seite darauf reagiert wurde, ist ein Hinweis, dass auch dort viele an einer Zuspitzung interessiert sind.
Die Reaktion der aserbaidschanischen Gesellschaft zeigt, dass sich nicht wenige finden lassen, die den Beginn eines neuen Krieges begrüßen würden. Ich weiß nicht, ob viele dieser Leute oder deren Angehörige persönlich an die Front ziehen werden, oder ob sie es sich zu Hause vor dem Computer bequem machen, um die Leidenschaften hochkochen zu lassen. Wichtig ist hier, dass die Regierung über genügend Kapazitäten verfügt, um eine vielköpfige Armee für einen neuen breitangelegten Konflikt zu mobilisieren. Wichtig ist ebenfalls, dass die Regierung all die Jahre auch über ernstzunehmende Ressourcen zur Anbahnung eines echten Friedensdialogs verfügte. Vieles ist zur Organisierung der Kriegsressourcen unternommen worden – für den Friedensprozess nur unendlich wenig.
Erfolgreiche Politik der Radikalisierung
Die Reaktion der Gesellschaft auf die Rückkehr Safarows lässt erkennen, wie wenig die Regierung für den Friedensprozess unternommen hat. Die gesamte Politik in den Medien, in der Bildung und in anderen Bereichen war auf eine Radikalisierung der aserbaidschanischen Gesellschaft ausgerichtet. An der Reaktion der Gesellschaft auf die Rückkehr des „Helden“ lässt sich erkennen, wie „erfolgreich“ die Regierung in ihrem Vorgehen gewesen ist. Weder Russland noch die EU und die USA zwingen unsere Regierung zu einer solchen Politik, zur Verschleppung des Friedensprozesses. All die Jahre haben wir es uns stets leicht gemacht, Russland, den Vereinten Nationen, der EU und den USA vorzuwerfen, sie unternähmen keine echten Schritte zur Lösung des Konflikts. Und all die Jahre haben wir geschickt unsere Augen davor verschlossen, dass wir nichts unternommen haben, um einer friedlichen Lösung näher zu kommen. Eher das Gegenteil. All die Jahre hat die Regierung die Ressource „Konflikt“ erfolgreich zur Lenkung der ihr unterstellten Gesellschaft eingesetzt - wie zum Beweis, dass, wie es einer der Klassiker formulierte, Hass stets leichter fällt als Freundschaft. Auf die Situation in Armenien werde ich hier nicht weiter eingehen, bin jedoch überzeugt, dass dort eine ganz ähnliche Politik verfolgt wurde.
Wir leben in einer Welt, in der wir uns entscheiden müssen, mit wem wir Freundschaften pflegen. Wir könnten uns natürlich dadurch beruhigen, dass Europa auch nicht das Ideale ist, oder gar damit, dass es unseren Feinden in die Hände spielt. Wir können ihnen (den Demokraten) weiterhin vorschlagen, Breivik mit Safarow zu vergleichen, zugunsten des Letzteren, versteht sich. Wir müssen jedoch verstehen, dass die staatliche und gesellschaftliche Heldenverehrung einer Person, die durch Gerichtsurteil eines brutalen Mordes für schuldig befunden wurde, in Europa Unverständnis auslöst, Abscheu, ja Schrecken angesichts der Frage, mit was für einer Gesellschaft es Europa an seiner Grenze eigentlich zu tun hat. Unsere Hurrapatrioten werden an dieser Stelle sofort an die Tragödie in Chodschaly erinnern. Heißt das etwa, dass dies ein Beispiel für uns ist? Dass wir uns ein solches Verhalten zu eigen machen sollten? Dass wir glauben sollen: Da „die anderen“ nicht verurteilt wurden, können wir es ja genauso machen...?
Autoritäre Regime brauchen den Konflikt wie die Luft zum Atmen
Ich bin überzeugt, dass dies eine Sackgasse ist. Ich bin überzeugt, dass nur eine friedliche Lösung des Konflikts, eine, die auf Kompromisse gegründet ist, es den beiden Völkern möglich macht, die Fesseln des Autoritarismus zu sprengen und einen Weg zu beschreiten, auf dem eine moderne demokratische Gesellschaft entsteht. In der Konflikttheorie gilt seit langem, spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg, das Postulat, dass demokratische Staaten nicht gegeneinander Krieg führen. Armenien und Aserbaidschan bestätigen dieses Prinzip. Die autoritären Regime, die in beiden Ländern und Gesellschaften Wurzeln geschlagen haben, brauchen den Konflikt wie die Luft zum Atmen, als wichtigste Ressource zum Erhalt und zur Festigung ihrer eigenen Macht.
Wir haben noch eine Alternative. Entweder schaffen wir eine Gesellschaft eines allgemeinen Wohlstandes und befreien uns dabei von dem kindlichen Komplex einer Kritik an den westlichen Demokratien, dass diese nicht ideal seien, und auch von dem Glauben, dass wir über unseren eigenen, souveränen Weg zur Demokratie verfügen. Oder wir bestätigen endgültig unsere Mitgliedschaft im Club der totalitären oder autoritären Staaten. Unsere Nachbarn, namentlich Russland und den Iran, würde dies nur freuen. Konflikte und Kriege würden dann noch viele Jahrzehnte lang unsere Realität und unser Alltag bleiben.
Wird denn etwa mehr Gerechtigkeit in dieser Welt herrschen, wenn in einem neuen Kampf zehn, zwanzig oder dreißig Tausend Menschen umkommen? Gibt es jetzt mehr Gerechtigkeit, da der Aserbaidschaner Ramil Safarow einen armenischen Offizier ermordet hat? Sind wir durch diese „Heldentat“ der Lösung des Konflikts näher gekommen? Nein, wir sind wieder einmal hoffnungslos weit davon entfernt. Sehr viel weiter entfernt, als noch vor einigen Tagen, als Safarow noch nicht die offizielle Anerkennung als „nationaler Held“ erfahren hatte. Hannah Arendt hat einmal sinngemäß gesagt, Krieg sei ein Luxus geworden, den sich nur kleine Nationen leisten können. Stimmt das wirklich? Können wir uns den Luxus eines weiteren Krieges leisten? Können wir es uns leisten, unsere Angehörigen und Freunde in einem neuen Krieg zu verlieren?
Ich bin überzeugt, dass es in der aserbaidschanischen Gesellschaft auch jetzt noch viele Menschen gibt, die zu einem friedlichen Leben und Kontakten mit den Bewohnern des Nachbarlandes Armenien bereit sind. Die nicht bereit sind, „Heldentaten“ aus nationalem Hass zu begehen. Die aber bereit sind, friedlich zu leben, Nachbarn zu sein und die Bräuche des anderen zu achten. Ich bin überzeugt, dass in diesen Menschen und solchem Handeln unsere Zukunft liegt.
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Sevil Huseynova ist Doktorandin am Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität, Berlin. Sie war Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung im Südkaukasus.
Dieser Artikel wurde zuerst auf der unabhängigen Internetseite contact.az veröffentlicht (6. September 2012) und von Hartmut Schröder übersetzt.
Übersicht aller Texte zum Thema:
- Armenien: Verbrechen ohne Strafe? Die Safarow-Affäre, Mikael Zolyan ordnet den Fall aus armenischer Perspektive in den Karabach-Kontext ein
- Aserbaidschan: Ein "Held" unserer Zeit, Sevil Huseynova reflektiert aus persönlicher Sicht über die Botschaft, die mit der Ernennung eines Mörders zum Volkshelden verbunden ist
- Ungarn: Was sagt uns der Fall Safarow über das heutige Ungarn?, Kristóf Szombati beleuchtet die zweifelhaften Hintergründe der ungarischen Entscheidung
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