Tscherkessen - Siedlungsgebiet 1830 Quelle: www.circassianworld.com |
Das Tscherkessische gehört zur Adyge-abchasischen Sprachfamilie. Die Tscherkessen besitzen keine eigene Schrift. Mit der Islamisierung wurde ihre Schriftsprache Arabisch. Anfang des 20. Jahrhunderts bediente man sich des lateinischen Alphabets. Seit 1937/38 wird das kyrillische Alphabet mit einigen Ergänzungen benutzt.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts befinden sich die Nordkaukasier unter russischer Herrschaft. Nach hartnäckigem Widerstand des Nationalhelden Imam Schamil, der 1839 die kaukasischen Völker vereinigt hatte, gelang russischen Truppen die Unterwerfung der Region. Der 21. Mai 1864 gilt offiziell als Ende der russisch-kaukasischen Kriege. Der Tag wird aber auch als „Tag des Genozids“ begangen.
Vertreibung und Tod
Nach dem Krieg wurden die Tscherkessen aus ihrer Heimat vertrieben. Etwa 500.000 bis 1.000.000 Tscherkessen und Abchasen wurden über das Schwarze Meer ins Osmanische Reich zwangsverschifft. Dabei kamen nach Schätzungen über 100.000 Vertriebene um. Andere Schätzungen gehen weitaus höher: Nach der Zwangsvertreibung würden etwa eine Million Tscherkessen vermisst, die nur im Laufe der Geschehnisse umgekommen sein können.
In das Gebiet der Tscherkessen rückten zumeist christliche russische Bauern aus dem Landesinneren des Russischen Reiches nach, die zusammen mit dort ansässigen Turkvölkern die Tscherkessen zu einer Minderheit im angestammten Land machten. In der Sowjetära hatten die Tscherkessen einige Jahrzehnte eine eigene Autonome Sowjetrepublik.
In neuerer Zeit (1957) wurden sie bewusst mit anderen Nationalitäten wie den turkstämmigen Kalbaren und Karachaiern sowie Russen in mehreren Teilrepubliken zusammengebracht. Um gemeinsamen Interessen Nachdruck zu verleihen, bildeten Tscherkessen Kooperationen von Parlamentariern und Verbänden der verschiedenen Regionen.
Diese Kooperation wurde durch die Neuordnung im Kaukasus durch Bildung eines zusätzlichen Föderalen Großbezirks erschwert: gehörten bisher alle drei Teilrepubliken dem Südlichen Föderationsbezirk an, so wurden 2010 auf Anordnung von Präsident Medwedjew die Teilrepubliken Karatschai-Tscherkessien und Kabardino-Balkarien einem neuen „Nordkaukasischen Föderationsbezirk“ zugeschlagen, während die nördliche Teilrepublik Adygeya mit dem Bezirk Krasnodar beim Südlichen Föderationsbezirk verblieb. Die noch autonome Republik Adygea ist durch Pläne gefährdet, sie im Krasnodar Krai aufgehen lassen zu wollen.
In Russland benachteiligt
Insgesamt fühlen sich die Tscherkessen in Russland politisch und wirtschaftlich benachteiligt und träumen von einer eigenen zusammenhängenden Region. Auch die anderen türkischstämmigen Nationalitäten sind mit der zwangsweisen Symbiose mit ihnen fremden Stämmen nicht glücklich. Eigentlich sollen die Spitzenposten nach ethnischem Proporz besetzt werden, doch wird diese Regel immer wieder aufgrund anderer Prioritäten durchbrochen. Streit zwischen den verschiedenen Nationalitäten gibt es insbesondere bei der Postenbesetzung, bei der Land- und Hausvergabe sowie bei der Zuteilung von Budgetmitteln.
Immerhin sind in zwei der drei russischen Teilrepubliken Tscherkessen an der Macht: in der Republik Adygea ist seit 2007 der Tscherkesse Aslan Tchakuschinow Präsident und in Kabardino-Balkaria seit 2005 Arsen Kanokow. In Abchasien war der Tscherkesse Sultan Sosnaliyew in den Jahren 2005-2007 Verteidigungsminister und Vizepremier (gestorben 2008). In der Teilrepublik Karatschai-Tscherkessien ist der Karatschane Rashid Temresow seit Februar 2011 an der Macht. In erster Linie sind die Republikoberhäupter dem Kreml verpflichtet und den Kremlstatthaltern der Großkreise, denen ihre Republiken zugeordnet sind. In ihren Republiken wollen sie die verschiedenen Nationalitäten ruhig halten.
In alle Winde zerstreut
Heute lebt die Mehrheit der Tscherkessen außerhalb des Kaukasus: in der Türkei etwa zwei Millionen, in Syrien 100.000, in Jordanien 65.000, in Israel 4.000 sowie in der EU vornehmlich in Deutschland und Holland 40.000 und in den USA 9.000. Es gab und gibt teilweise noch Tscherkessen-Siedlungen im Kosovo (bei Kosovo-Polje und Obiliq nicht weit der Hauptstadt Pristina), in Südserbien, in Bulgarien und Moldova. Im Nahen Osten waren sie als treue Gardisten bei den Herrschern beliebt, auf dem Balkan waren sie als ehemalige Söldner eher verhasst. 1998 auf dem Höhepunkt des Kosovo-Konflikts wurden die Tscherkessen in einer Blitzaktion ausgeflogen und in den Kaukasus zurückgeschafft, wo sie in der Republik Adygien angesiedelt wurden.
Es gibt Schätzungen, wonach weit mehr Tscherkessen über den Globus verstreut leben: Zehn Miollionen Tscherkessen (Adygen, Kabardiner u.a.) sollen es demnach insgesamt sein. Davon würden allein acht Millionen in der Türkei leben, 850.000 in Russland, 180.000 in Jordanien, 60.000 in Syrien, 35.000 in Libyen, 12.000 in Israel, 3.500 im Irak, 80.000 in der EU, vor allem in Deutschland und15.000 in den USA.
Identität verloren
Es heißt, die Tscherkessen in der Diaspora seien weitgehend assimiliert und sprechen kaum noch ihre eigene Sprache. Die meisten Tscherkessen seien in der türkischen Bevölkerung aufgegangen und erscheinen in der Diaspora in der EU und insbesondere in Deutschland als Türken.
Im Kaukasus ist eine Minderheit der Tscherkessen verblieben, die in drei autonomen Republiken lebt: In der Republik Adygeja (RA, Hauptstadt Maykop) sind von 443.000 Einwohnern etwa 108.000 Tscherkessen, in Karatschai-Tscherkessien (KChR, Hauptstadt Tscherkessk) von etwa 427.000 Einwohnern rund 50.000 Tscherkessen und in Kabardino-Balkarien (KBR, Hauptstadt Naltschik) von 893.000 Einwohnern etwa 498.000 Tscherkessen. Weitere 10.000 Tscherkessen leben in der Umgebung der Stadt Tuapse an der Schwarzmeerküste. Wenige Tausend leben im Stavropol Kray, in Nordossetien und in Moskau.
Bis auf Kabardino-Balkarien sind die Tscherkessen in ihrer heutigen Heimat Minderheiten. Karatschaner und Balkaren sind Turkstämme, die 1944 nach Zentralasien deportiert wurden und 1957 zurückkehrten. Die Russen machen in Adygeja 65 Prozent aus, in Kabardino-Balkarien 32 Prozent und in Karatschai-Tscherkessien 42 Prozent. Russische Bestrebungen, die zum Gebiet Krasnodar gehörende Republik Adygeja aufzulösen, führten 2005 zu Unruhen. Die Tscherkessischen Siedlungsgebiete reichen heute nicht bis zur Olympiastadt Sotschi, liegen aber nahe der Schwarzmeerküste.
Die große Mehrheit der Tscherkessen sind sunnitische Muslime (wie auch die in der Türkei). Lediglich die kabardinischen Tscherkessen in der Umgebung der Stadt Mosdok sind orthodoxe Christen.
Die Tscherkessen gelten als die Ureinwohner des Kaukasus und haben sich vor allem in den Bergregionen einen archaischen, aus Gastfreundschaft, Sittsamkeit und Blutrache bestehenden Sittenkodex – vergleichbar den Stämmen in Albanien und im Hindukusch - bewahrt. Umso mehr halten sie die schmerzliche Erinnerung ihrer Deportation durch das zaristische Russland im 19. Jahrhundert bis heute wach.
Völkermord an den Tscherkessen unvergessen
Der 21. Mai 1864 ist den Russen ein „Tag des Sieges“ über die Völker des nördlichen Kaukasus, den Tscherkessen ein Anlass zur Besinnung, zum Protest und zu gemeinsamen Engagement angesichts vergangener Gewalttaten der Russen gegenüber den Völkern des Kaukasus.
So gedachten die Tscherkessen in Berlin am 21. Mai 2009 des 145. Jahrestags des Genozids durch das zaristische Russland. Dazu kamen Emigranten aus Deutschland, Italien, den USA, Israel, der Türkei, den Niederlanden und anderen Staaten angereist. Die Genozidtragödie hat für die Tscherkessen einen ähnlichen Stellenwert wie der Genozid der Türken für die Armenier. Die Gedenkfeier gab vor allem jungen Menschen aus Europa und Übersee die Gelegenheit, Kontakt aufzunehmen und sich der eigenen Identität zu versichern, tscherkessische Lieder zu hören und sich zu politisch zu engagieren. Die Feier stand unter der Schirmherrschaft der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).
Die GfBV-Referentin erinnerte damals daran, dass die unterschiedlichen Stämme der Tscherkessen fast 100 Jahre lang Widerstand gegen die russische Kolonisation des Kaukasus geleistet hatten. Schließlich unterlagen sie der Übermacht des russischen Militärs. Dieses ging mit größter Brutalität gegen die Menschen im Nordkaukasus vor. Dörfer wurden systematisch niedergebrannt, Männer, Frauen und Kinder ermordet.
Am 28. Mai 1864 begann die Deportation der Überlebenden ins Osmanische Reich. Über das Schwarze Meer schickte man die Menschen in offenen Barkassen, kleinen überfüllten Booten, viele sanken und die Menschen ertranken. Dann wurden die Tscherkessen von Hunger und Krankheiten heimgesucht. Die genaue Zahl, wie viele Menschen durch das russische Verbrechen umkamen, lässt sich nicht mehr feststellen.
Der US-Historiker Stephen Shenfield (The Circassians - A Forgotten Genocide?, Oxford/New York 1999-2006) rechnet auf der Basis von Willis Brooks (‚Russia‘s Conquest and Pacification of Caucasus, 1995) folgendermaßen: Vor der russischen Kolonisierung gab es rund zwei Millionen Tscherkessen. 1864 war der nordwestliche Kaukasus, das Herzland der Tscherkessen, fast vollständig „gesäubert“. Zwischen 120.000 und 150.000 Tscherkessen wurden in andere Regionen des Russischen Reiches umgesiedelt. Rund 500.000 wurden ins osmanische Reich zwangsdeportiert. Zuvor im Jahr 1858 waren rund 30.000 Familien bzw. etwa 200.000 Personen ausgewandert. Das bedeutet, dass es keine Angaben zu rund einer Million Tscherkessen gibt, und wenn man noch die Opfer der Vertreibung hinzuzählt, gab es wohl fast 1,5 Millionen Opfer.
Als Volk trotz allem überlebt
Immerhin haben die Tscherkessen trotz des Assimilationsdrucks in der Diaspora als Volk überlebt. Es ist ihnen gelungen, ihre Kultur und Sprache in die Gegenwart herüberzuretten. Es gibt eine breite tscherkessische Bewegung im Nordkaukasus, in der Diaspora in der Türkei, dem Mittleren Osten und Europa und den USA, die erst seit kurzem aktiver wird.
Die Tscherkessen fordern von der Türkei, in der sie die größte Diaspora-Gruppe haben, die Anerkennung ihrer eigenständigen Sprache, Geschichte und Kultur sowie Berücksichtigung ihrer Anliegen durch die türkische Außenpolitik in Bezug auf den Kaukasus.
Sie fordern von der russischen Regierung die Anerkennung des Völkermords durch das zaristische Russland, eine Entschuldigung und letztlich auch Kompensation. Der Kreml zeigte sich bisher ablehnend und desinteressiert. Vielmehr brandmarken die russischen Behörden die Tscherkessen als „Separatisten“, wobei sie versuchen, deren Eigenständigkeitsstreben wie auch das der anderen Nationalitäten des Nordkaukasus zu torpedieren. Die Enttäuschung über die Haltung der Russen könnte, so meinen Experten, zu einer Radikalisierung der jungen Generation der Tscherkessen führen.
Das runde Jubiläum – der 150. Jahrestag des Genozids im Jahre 2014 soll bewusst in der Olympiastadt Sotschi vor einer breiten Öffentlichkeit begangen werden. Viele tscherkessische Aktivisten beklagen, die Olympiade finde „auf blutbeflecktem Boden“, dem Terrain des Genozids statt. Sie verweisen auf die typischen Begleiterscheinungen derartiger Projekte wie die Olympiade von Sotschi: Korruption, Gaunereien, ja sogar Menschenrechtsverletzungen und eine zerstörte Umwelt. Bedächtigere Stimmen preisen die Chance der Selbstdarstellung und die Aussicht auf Umsätze und Gewinn für die Bewohner der Region - auch für die Tscherkessen.
Die Tscherkessen der Diaspora organisieren sich
Ende der 60er Jahre emigrierten Tscherkessen aus der Türkei in Länder der europäischen Union. Über die Gesamtzahl der in Europa lebenden Tscherkessen gibt es keine genauen Angaben, man geht davon aus, dass in Europa etwa 10.000 Tscherkessen leben. Vorwiegend in Deutschland, Holland, Belgien, Frankreich, der Schweiz und Österreich
Der erste in Europa gegründete „kaukasische Kulturverein“ wurde am 22.09.1968 von tscherkessischen Emigranten in München ins Leben gerufen. Weitere Kulturvereine in Deutschland und den Nachbarländern folgten. Erst mehrere Jahrzehnte später - im Jahre 2004 - schlossen sich die inzwischen gewachsenen Kulturvereine in Deutschland, Holland und Belgien zu einer „Föderation der Tscherkessischen Kulturvereine in Europa“ zusammen.
Am 19.-21. Mai 1990 fand in Holland eine konstituierende Versammlung für einen „Weltkongress der Tscherkessen“ statt, an der Delegationen aus Europa, der Türkei, Syrien, Jordanien, den USA und aus dem Kaukasus teilnahmen. Dieser benannte sich später in „Internationale Tscherkessische Assoziation“ (engl. Abk.: ICA) um, die von Naltschik, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Kabardino-Balkarien aus gesteuert wird.
Trotzdem sind die Tscherkessen auch weiterhin im Kaukasus und in der Diaspora stark zersplittert. Die Struktur ihrer Vereine bleibt oft unübersichtlich. Sie divergieren nicht nur nach Regionen, sondern auch in ihrer Mission und ihren politischen Zielen. Da gibt es unpolitische, kulturelle Verbände, politisch gemäßigte und radikal-nationalistische. Es heißt, einige Verbände seien von russischen Agenten unterwandert, die dem Kreml die Möglichkeit zur Steuerung geben sollen.
Die großen tscherkessischen Diaspora-Verbände
Die „Internationale Tscherkessische Assoziation“ ICA (oft mit dem Zusatz „Adyge-Khase“), ist wohl der wichtigste Dachverband tscherkessischer Organisationen aus aller Welt. Ihm gehören die ethnisch-tscherkessischen Organisationen der drei Teilrepubliken der RF, des Krasnodar Gebietes sowie der Diaspora, der Türkei, Syriens, Jordaniens, Israels, der USA (New Jersey und Kalifornien) und Deutschlands (der FKTV unter Leitung Tamzoks). Sitz des Weltverbandes ist Naltschik, die Hauptstadt der Republik Kabardino-Balkarien, Vorsitzender ist der Bankier Kanshoby Azhakhov aus Naltschik (KBR).
Die Föderation der Tscherkessischen Kulturvereine in Europa (FTKV) ist die Dachorganisation der acht größeren tscherkessischen Kulturvereine in Deutschland. Vorsitzender der FTK ist Umar Faruk Tamzok, Hannover, Vorgänger und Ehrenvorsitzender ist der rührige Dr. Ehsan Saleh, der auch den Weltverband mit aus der Taufe hob.
Außerdem gibt es die Föderation der Europäischen Tscherkessen (engl. Kürzel FEC). Präsident ist Admiral Daşdemir , Generalsekretär Levent Sürer. Die Unterschiede zwischen FEC und FTK sind nicht ganz transparent, zumal sie teilweise in den gleichen Orten präsent sind. Auf jeden Fall handelt es sich um zwei rivalisierende Organisationen.
Prominentester Tscherkesse in Deutschland ist Cem Özdemir
Im Frühjahr 2009 wurde in Köln das „Circassian Network“ (CN), (Webseite www.circassian-network.com) gegründet, das sich als Lobbyverband junger Tscherkessen und als unabhängiges Diskussionsforum sieht. Es wird vom Jungunternehmer Bilal Edis Misiroka und einem jungen agilen Team gemanagt. Sitz ist Köln. Misiroka kommt aus Kayseri/Türkei, er ist vom Stamm Kabarday, wie er selbst angibt.
Am 28.04.2010 besuchte Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, zusammen mit dem Landtagsabgeordnete Arif Ünal, ebenfalls tscherkessischer Herkunft, die junge Mannschaft. Befragt nach dem Motiv seines Besuchs gestand Özdemir: „Mein Vater ist Tscherkesse. Zusammen waren wir in der Urheimat der Tscherkessen in der Adygea Republik im Kaukasus. Ich will meinen Beitrag dazu leisten, dass diese faszinierende Kultur nicht vom Erdboden verschwindet, sondern wie andere vom Aussterben bedrohte Zivilisationen eine Zukunft hat.“
Auf der Kölner Konferenz wurde über das Leben der Tscherkessen in Deutschland, Fragen der Integration und auch über die Idee eines „Tscherkessien“ diskutiert, die Wiederherstellung einer einheitlichen Tscherkessen-Republik im Nordkaukasus „in den historischen Grenzen“ (Siehe Karte).
Die Mobilisierung der Tscherkessen war bislang schwierig wegen der Zersplitterung in eine Vielzahl von Stämmen und Verbänden, der unterschiedlichen Dialekte, der nicht abgeschlossenen Nationswerdung und Uneinigkeit selbst über einen einheitlichen Volksnamen, Tscherkessen oder Adyghen anstelle der vielen Stammesnamen.
NRW-Landtagsabgeordneter Arif Ünal erklärte, dass es kontraproduktiv sei, wenn eine so kleine Volksgruppe zwei rivalisierende Dachverbände in Europa habe. Er empfahl, dass sich die Diaspora-Tscherkessen mit anderen unterdrückten Volksgruppen koordinieren, was ihren Forderungen mehr Gewicht verleihen würde. Auch sollte das Genozid-Thema einer breiteren Öffentlichkeit, insbesondere am Sitz der Europäischen Union in Brüssel, vorgetragen werden. (www.cherkessia.net/, Bericht vom 21.12.2010).
In München gibt es sogar ein tscherkessisches Institut
Neben Brüssel, Berlin, Hamburg und Köln war München schon immer ein wichtiges Zentrum der Emigration, denken wir nur an die Ukrainer. In München residierte bis zur Wende der von den USA gesponserte Sender Radio Freies Europa, dessen Stimme der Freiheit weit über den Eisernen Vorhang hinweg bis in den Kaukasus reichte. Kaum einer weiß, dass es in München sogar ein Tscherkessisches Institut gibt, das neben Tscherkessenkunde auch Lobbyismus und etwas Politik betreibt. Auf der Basis von Materialsammlungen, Analysen und Stellungnahmen bringt es die Belange der Tscherkessen an die Öffentlichkeit und ruft aus unterschiedlichen Anlässen (Genozidgedenken, Olympische Spiele in Sotschi 2014) zu Demonstrationen auf. Das Institut wird vom Nordkaukasischen Tscherkessischen Kulturverein München e.V. gefördert.
Tscherkessen in aller Welt
Die Tscherkessen in der Türkei stellen mit etwa zwei Millionen Menschen (2,8 Prozent der türkischen Gesamtbevölkerung) nach den Kurden eine der größten ethnischen Minderheiten dar. Nach anderen Schätzungen leben sogar fünf bis acht Millionen Tscherkessen in der Türkei. Am Bosporus lebt jedenfalls die größte tscherkessische Gemeinschaft überhaupt, sie ist größer als die in ihrer Ursprungsheimat, dem Kaukasus.
Die große Mehrheit der aus dem Kaukasus eingewanderten Tscherkessen wurde in der Türkei assimiliert. Nur knapp die Hälfte beherrscht noch eine der tscherkessischen Sprachen. Die Tscherkessen in der Türkei sind nahezu ausschließlich sunnitische Moslems. In Deutschland und Westeuropa sind die Tscherkessen meist nicht zu erkennen, es sei denn sie bekennen sich offen zu ihrer Nationalität. Da sie meist die türkische Staatsangehörigkeit haben und nur türkisch sprechen, gelten sie hierzulande als „Türken“.
Entsprechend dem Gewicht, das die Tscherkessen in der Türkei haben, ist die dortige „Föderation Kaukasischer Vereine“ (KAFFED) - abgesehen von dem oben beschriebenen Weltverband - die größte und mächtigste tscherkessische Organisation in der Diaspora. Die KAFFED ist der Dachverband von 58 tscherkessischen Verbänden in der Türkei. Präsident der KAFFED ist Cihan Candemir. Hinter KAFFED stehen mächtige Unternehmer, Politiker und Personen aus der Kultur und Bildung.
Dennoch klagen die Tscherkessen über ihre Situation in der Türkei. In Petitionen an das türkische Parlament und die Regierung forderten sie nach dem Vorbild der Kurden wiederholt Tscherkessisch-Unterricht an Hochschulen und Schulen sowie Radio- und TV-Sendungen in der tscherkessischen Sprache. Dabei verweisen sie auf die günstigere Situation in Russland in ihren drei Republiken. Mehrere tscherkessische Verbände riefen die Türkei auf, ihren Integrationsprozess mit der EU fortzusetzen und mit einer standardgemäßen Minderheitenpolitik zu verbinden. Experten sagen, die Lage der Tscherkessen hänge mit dem Grad der „Europäisierung“ der Türkei zusammen. Inzwischen müssen sich die Tscherkessen gegen konkurrierende Lobbygruppen der Tschetschenen, Georgier, Armenier und Aserbaidschaner, die in der Türkei immer aktiver werden, durchsetzen.
Zwei Staatspräsidenten tscherkessischer Herkunft
Historisch gibt es eine Vielzahl Tscherkessen, die sich als Staatsoberhäupter, Militärs, Politiker, Sportler oder Kulturschaffenden hervorgetan haben. Schon in osmanischer Zeit waren sie als Offiziere, Polizisten und Wächter beliebt. Wegen ihrer kämpferischen und künstlerischen Traditionen (Tanz) haben die Tscherkessen kaum reine Unternehmer hervorgebracht. Einige haben schon in osmanischer Zeit hohe militärische und politische Positionen erreicht. In der neueren Türkei gab es immerhin zwei Staatspräsidenten tscherkessischer Herkunft Fahri Korotürk (1973-1980) und Ahmet Sezer (2000-2007), ein weiterer Abdüllatif Şener war Vizepremier und Finanzminister unter dem gegenwärtigen Premier Recep Tayyib Erdogan. Über die Grenzen der Türkei hinaus bekannt ist auch der Schriftsteller und Nobelpreisträger (für Literatur 2006), Orhan Pamuk, der zur Hälfte tscherkessischer Herkunft sein soll.
In Jordanien genießen die Tscherkessen eine bevorzugte Stellung. König Abdullah schätzt die Loyalität tscherkessischer Militärs, Polizisten, Unternehmer und Parlamentarier. In Amman befindet sich ein für die Diaspora bedeutender Sender, NART-TV, der von der Leiterin Janti Naghaway und ihrem jungen Team gemanagt wird. In Naltschik/Kabardino-Balkarien betreibt der Sender einen weiteren Satellitenkanal. NART-TV will informieren und mit seinen Sendungen zur Wahrung der tscherkessischen Sprache und Kultur beitragen. Seine Nachrichten, Bildungs-, Unterhaltungs- und Kulturprogramme erreichen Hörer in Südrussland, im Nahen Osten und in Nordafrika.
Im Norden Israels gibt es zwei tscherkessische Dörfer, Rihanya und Kfar-Kama, die bereits um 1880 herum entstanden. Es handelt sich um Tscherkessen, die vom Balkan in den Nahen Osten umgesiedelt wurden. In Rihanya leben etwa 1000 Abadsechen, in Kfar-Kama 2000 Schapsughen. Das größere Dorf Kfar-Kama liegt in der Nachbarschaft jüdischer Siedlungen, Rihanya in der Nähe arabischer Siedlungen. In ihren „Siedlungsoasen“ hatten die Tscherkessen seit jeher die Möglichkeit, ihre Sprache, Kultur und Traditionen zu pflegen. Durch die unterschiedliche Religion und Kultur gegenüber den Juden kam es zu keiner nennenswerten Assimilierung. Dabei sind die Beziehungen der Israelis (im Unterschied etwa zu den Palästinensern) zu den Tscherkessen unproblematisch. Die Tscherkessen sind im öffentlichen Leben Israels integriert: sie verrichten ihren Wehrdienst in der israelischen Armee. Man findet sie auch im Polizeidienst wieder.
In den USA gibt es zwei Regionen, in den Tscherkessen leben – Kalifornien und New Jersey. Dort wird in den beiden Regionalverbänden, der „Circassian Association of California” und einer Organisation für New Jersey in relativ kleinen Gemeinschaften die tscherkessische Kultur gepflegt. Waren die Tscherkessen in Übersee ursprünglich eher unpolitisch, so zeigen sie - inspiriert durch das humanitäre Selbstverständnis und den missionarischen Eifer amerikanischer Organisationen - in den letzten Jahren zunehmend politisches Engagement. Eine herausragende amerikanische Aktivistin für die tscherkessischen Anliegen ist Çiçek Şık, die auch in Moskau beim Treffen mit der Duma auftrat und an die fortwirkenden Auswirkungen des Genozids bis in die Gegenwart erinnerte.
Die Tscherkessen in Russland begehren auf
Am 21. November 2010 fand in Tscherkessk, der Hauptstadt der Republik Karatschai-Tscherkessiens (KTschR), eine Versammlung der Vertreter mehrerer tscherkessischer Verbände statt, darunter die Vorsitzenden der „Adyge Khase“ der drei Teilrepubliken KTschR, der KBR und der Adygeya sowie des Rayons Krasnodar und des von Georgien abtrünnigen Abchasien. Um ihren gemeinsamen Bestrebungen (Landverteilung, Repatriierung, eigene Region) innerhalb Russlands mehr Nachdruck zu verschaffen, gründeten sie einen „Koordinationsrat der tscherkessischen Assoziationen in Russland“ unter Leitung von Muhamed Cherkesov.
Ein wichtiges Mittel zur Überwindung der Zerstrittenheit und Zersplitterung sowie zur Selbstfindung der Tscherkessen sei das Internet geworden. So soll das Projekt „Virtuelles Tscherkessien“ als Plattform der tscherkessischen Community zur Diskussion ihrer Probleme und schneller Reaktion auf aktuelle Vorgänge.
Ermuntert durch die Diaspora-Verbände wagte es der tscherkessische Weltverband ICA, sich auch an den Kreml zu wenden, um diesem regionale Fragen wie auch Probleme vorzutragen, die nur auf Föderationsebene gelöst werden können.
Ein erstes geradezu historisches Treffen fand am 16. Mai 2011 in Moskau statt, auch wenn dieses unter fast schikanösen Umständen verlief. Vorgesehen war eine Begegnung zweier paritätisch besetzter Delegationen von je acht Vertretern der ICA und einer entsprechenden Zahl von Abgeordneten der russischen Staatsduma und des Föderationsrats. Für den Vortrag der tscherkessischen Anliegen einschließlich Diskussion waren „aus Zeitmangel der Abgeordneten“ gerade mal eineinhalb Stunden reserviert. Die Sitzung leitete der stellvertretende Vorsitzende des auswärtigen Komitees, Andrey Klimow.
Tscherkessen wollen zur Entwicklung des Kaukasus beitragen
Die tscherkessische Delegation führte der Präsident des ICA Kanşobi Ajaxho an. Klimow eröffnete die Anhörung mit den Worten zum Reglement, nach dem jedem Diskutanten nur fünf bis sieben Minuten Redezeit zur Verfügung stehe. Schwerpunkt der Diskussion sollten die internationalen Aspekte der tscherkessischen Thematik sein. Ajaxho sprach mit seiner Delegation dann den Wunsch vieler Diaspora-Tscherkessen nach Repatriierung an, den nur der Kreml erfüllen könne, die Rückkehrmöglichkeit der Tscherkessen und Ansiedlung in ihrer Heimat.
Er wies auf die verheerenden Auswirkungen des Genozids vor 150 Jahren hin, die bis heute andauern, forderte die Anerkennung des Genozids durch Russland, Kompensationsforderungen habe Russland nicht zu erwarten. Terroristen habe er unter den Tscherkessen (im Unterschied zu den Tschetschenen) nicht zu befürchten. Die Diaspora wolle dabei zur Entwicklung des Kaukasus beitragen.
Spiele in Sotschi „auf den Gebeinen der Opfer“
Auch müsse der Kreml das Streben der Tscherkessen nach Vereinigung innerhalb der russischen Grenzen und ggf. auch nach Unabhängigkeit innerhalb der Russischen Föderation respektieren. Dann könnten auch freundschaftliche Beziehungen weiter bestehen. Sie wiesen auch auf die Problematik der Olympischen Spiele in Sotschi hin, die auf den „Gebeinen tscherkessischer Opfer“ stattfänden. Der Vertreter der Tscherkessen in Deutschland Omar Tamzok (Hannover) hob das Beispiel Deutschlands hervor, Rückkehrwillige aus der Diaspora zu unterstützen.
Immerhin bewirkten Initiativen dieser Art, dass sich russische Politiker und Politikforscher mit den Tscherkessen befassten. So hatte das Zentrum für Zivilisation und Regionalforschungen der Russischen Akademie der Wissenschaften Ende März 2011 in Moskau eine Konferenz zur „Tscherkessischen Frage“ veranstaltet. Dabei ging es um die Vergangenheit wie auch um Zukunftsstrategien.
Für ein autonomes Tscherkessien
Um es deutlich zu sagen, die Tscherkessen fordern auf der Basis ihrer historischen und der gegenwärtigen übrig gebliebenen Siedlungsgebiete ein autonomes Tscherkessien im Rahmen der Russischen Föderation.
So hatten bereits auf der Konferenz in Cherkessk am 5. Juni 2010 Vertreter der tscherkessischen Adyghe eine Teilung der Karatschai-Tscherkessischen Republik und die Wiederherstellung eines Tscherkessischen Autonomen Oblast, wie er bereits 1928-1957 bestanden habe, gefordert. Ihren Antrag richteten sie an Präsident Dmitri Medwedew, an Premierminister Wladimir Putin und an den Präsidentenbevollmächtigten des Nordkaukasus-Großkreises Alexandr Chloponin. Dies war der dritte derartige Antrag nach Autonomie in den letzten 17 Jahren.
Die Tscherkessen erhielten für ihre Wünsche nicht zuletzt durch die von Moskau betriebene Loslösung Abchasiens und Südossetiens nach dem August-Krieg 2008 Russlands mit Georgien Auftrieb. Ermuntert wurden sie auch durch Gewährung eine autonomen Status für die Noghaier und Abasen innerhalb der Teilrepublik Kabardino-Tscherkessien, die Moskaus Prinzip, eine weitere Zersplitterung des Kaukasus zu vermeiden, eigentlich widerspricht. Bei ihren Forderungen können die Tscherkessen auch auf die Kalmyken verweisen, die ebenfalls - bereits 1992 im Kaukasus eine eigene Republik haben.
Die Unruhe unter den Tscherkessen wurde durch die Planungen für die Olympischen Spiele von 2014 in Sotschi, ohne sie in irgendeiner Form zu beteiligen, noch gesteigert. Ihre Lage sehen sie schließlich durch die kürzlich – im Januar 2010 - erfolgte Neuordnung des Kaukasus-Raums durch den Kreml und die dadurch bewirkte administrative Spaltung erschwert.
Der Kreml sieht in den Forderungen der Tscherkessen eine Bedrohung der territorialen Integrität der Russischen Föderation, was tscherkessische Aktivisten bestreiten. Ihrer Ansicht wird nicht eine Neuordnung, sondern ein Fortbestehen der unbefriedigenden Situation im Kaukasus Anlass zu ständiger Unruhe sein.
Doch generell ist man im Kreml der Überzeugung, dass jeglicher Schritt in Richtung Autonomie ähnliche Bestrebungen in den Nachbarregionen auslösen und den Radikalen im Nordkaukasus Auftrieb geben würde. Eine Vereinigung der Tscherkessen in einer zusammenhängenden Verwaltungseinheit würde zur Zersplitterung der Region führen, ähnliche Wünsche der anderen Nationalitäten hervorrufen und damit die Integrität Russlands als solches bedrohen.