Monday, January 23, 2006

Aus Ausgabe 31/03 Essay

Wir sind alle Afrikaner
Von Volker Sommer


Der Augenschein trügt: Was sich ähnlich sieht, ist noch lange nicht verwandt. Ausgerechnet die moderne Genetik machte dem Rassenkonzept den Garaus.

" [...] Es ist ausgerechnet die moderne Genetik, die dem Rassenkonzept den Garaus macht. Dies, nachdem die Wissenschaft die Rassenideologie über lange Zeit nach Kräften gefördert hatte.

Weiss als Mass aller Dinge

Die Anfänge waren einfach: Im Jahr 1740 begründete der Schwede Carl von Linné die zoologische Klassifikation. Die von ihm erfundene Spezies Homo sapiens vierteilte er entsprechend der Geografie: Americanus (rot, cholerisch, aufrecht), Europeus (weiss, sanguin, muskulös), Asiaticus (bleichgelb, melancholisch, hartnäckig), Afer (schwarz, phlegmatisch, gleichgültig). Die von Linné zugeordneten Eigenschaften mögen uns rassistisch dünken, spiegelten jedoch klassisch-mittelalterlich die Temperamente wider, denen kaum Wertung innewohnt. Und notabene: Europäer werden nicht zuerst genannt – wohl, weil dem bibeltreuen von Linné alle Menschen als Kinder der Ureltern Adam und Eva galten.

Ironischerweise gewann die Hierarchisierung erst mit der bibelkritischen Aufklärung an Dynamik – als die Europäer sich global ermächtigten und Weiss zum Mass aller Dinge machten. Mit jener Farbpalette, die Johann Friedrich Blumenbach 1775 zusammenstellte, liessen sich über Jahrhunderte die stärksten Stereotype illustrieren. Dass der wundersame Terminus «Kaukasier» für die «weisse» Variante bis in heutige Volkszählungen fortlebt, verdanken wir dem Entzücken des Göttinger Anthropologen über einen weiblichen Schädel aus Georgien, den er für das ästhetischste Stück seiner Sammlung hielt. Allerdings diagnostizierte Blumenbach, das kaukasische Schönheitsideal habe während der Erdbesiedelung mancherlei «Degeneration» erlitten. So sei eine Menschenlinie über «rote» Indianer zu «gelben» Orientalen abgestürzt, eine andere über «braune» Malaien zu «schwarzen» Afrikanern.

Zunehmender Wissenschaftsglaube brach dann jenem Überlegenheits-Rassismus Bahn, der das Modell der Evolution von «höheren» und «niederen» Lebewesen sowie des Überlebens der Tüchtigsten auf Gesellschaften übertrug. Demnach seien «primitive Rassen» in unwirtliche Rückzugsgebiete abgedrängt und isoliert worden. So liessen Rassen sich zunehmend als «unwandelbar» verstehen – Voraussetzung des «Reinhalte-Rassismus», der im Nationalsozialismus traurig gipfelte.

Der grobschlächtigen Nazi-Ideologie langten drei Grossrassen: zur Herrschaft berufene «Kaukasier», «theriomorphe» (tiergestaltige) «Negriden» und «pädomorphe» (kindliche) «Mongoliden». Wer so in Schwarz und Weiss malte, meinte natürlich zugleich «gut» und «böse». Dass «Mongolide» nahe an Geisteskranke gerückt wurden, lebt übrigens in der Bezeichnung «mongoloid» für Menschen mit Down-Syndrom fort. Ergo: Wer von «Mischlingen» redet, vor «Überfremdung» warnt und «Leitkultur» beschwört, schreibt im Grunde jene Nazi-Gedanken fort, wonach «Rassenkreuzung» zu «disharmonischen Kombinationen» führt und ein Volk zum Aussterben bringt.

Mythen und Märchen

Deutschsprachige Anthropologen und Humangenetiker lieferten aberwitzige Vorwände, damit Viehwaggons umso voll gestopfter die Selektionsrampen anliefen. So ist es beinahe paradox, dass schlussendlich gerade die Populations-Genetik dem Rassenkonzept den Gnadenstoss versetzen sollte.

Zunächst zerbröselte das Dogma der Typologie, wonach Rassen «ewig» seien – weil sich prominente «unwandelbare» Merkmale als umweltabhängig erwiesen. Beispielsweise bildeten Völker in Äquatornähe mehrfach unabhängig voneinander starke Tönung von Augen und Haut aus – zunächst in Afrika, der Wiege der Menschheit, dann aber auch in Asien und Amerika. Denn mit dunkler Iris sieht es sich besser unter gleissender Sonne, und Melanin-Pigment schützt vor Hautkrebs. Die Vorfahren heutiger Bleichgesichter hingegen siedelten sich dort an, wo Winternächte lange währten. Helle Haut erlaubt dem Körper, das lebenswichtige Vitamin D auch bei wenig Sonne herzustellen.Ganz ähnlich züchtete Sauerstoffarmut in Hochgebirgen bei Bergvölkern in Asien und Amerika parallel grössere Lungenkapazitäten heran. Was allerdings die fantasiereich als «natürliche Schneebrille» umschriebenen «Schlitzaugen» sollen, weiss niemand so recht. Denn auch wo’s garantiert keine weisse Weihnacht gibt, finden sie sich. Daher mag die «Lidfalte» eher mehrfach unabhängig voneinander der «geschlechtlichen Zuchtwahl» entwachsen sein, also auf Partnerwahl zurückgehen.

Zucker sieht aus wie Salz

Rasse-Systematiker vergötzten Farben und Formen, weil dies «Oberflächenmerkmale» sind – also im wahrsten Wortsinn ins Auge fallen. Wer hingegen auf innere Werte schaut, könnte gänzlich anders einteilen. Ein gutes Beispiel sind Blutgruppen-Merkmale. Die Verteilung von A, B und 0 nimmt absolut keine Rücksicht auf die grobe Dreiteilung «Europide – Negride – Mongolide». Ob allerdings das Wissen, dass Rasse nicht unter die Haut geht, nazistische Blut-Mystiker von ihrer oberflächlichen Weltanschauung abgebracht hätte, darf bezweifelt werden.

Jedenfalls sind Merkmale, die der Auslese unterliegen, komplett ungeeignet, genetische Verwandtschaft anzuzeigen – eben weil sie sich mehrfach unabhängig herausbilden können. Um Verwandtschaft zu rekonstruieren, konzentriert sich die moderne Molekular-Genetik deshalb auf «selektionsneutrale» Gen-Sequenzen, vorzugsweise aus jener DNA, die keine Eiweisse codiert.

Ganz kontra-intuitiv kam dabei etwa heraus, dass Schimpansen nicht am nächsten mit Gorillas gruppieren, sondern mit Menschen. Noch bedeutender für unser Selbstverständnis dürfte sein, dass sich die Schimpansen West-, Zentral- und Ostafrikas trotz frappierender äusserer Ähnlichkeit genetisch sehr unterscheiden. Für Menschen hingegen gilt umgekehrt: Der äussere Eindruck mag Vielfalt suggerieren, doch ist unsere genetische Varianz extrem gering. Denn erst vor 100000 Jahren schwärmten Weltenbummler aus Afrika aus. So erklärt sich, warum – wiederum entgegen dem Augenschein – «Schwarz»-Afrika die genetisch diversesten Bevölkerungen beheimatet: Die Gene jüngerer Gründerpopulationen hatten weniger Zeit, sich durch Mutationen zu verändern.

Die Genetik belegt zudem, dass das Erbgut durchschnittlich umso verschiedener ist, je weiter der geografische Abstand – ganz egal, wie jemand ausschaut. So erklärt sich, dass eben die genetische Distanz zwischen Aborigines und Thailändern geringer ist als zwischen Aborigines und Bantu. Zucker mag aussehen wie Salz, hat aber weitaus mehr gemein mit Sirup.

Die Erfindung neuer Rassen

Wenn sich aber bestimmte Gene in manchen Bevölkerungen häufen: Was sollte uns dann hindern, neue Rassen einzuteilen? Zum einen besteht das Problem, dass immer willkürlich ist, wie viel Prozent Differenz genügen sollen. Wer wollte etwa den Appenzellern das Recht auf eigenen Rassestatus verweigern – gelten sie doch nicht nur als kleinwüchsig, sondern verfügen zudem über eigene Käse-, Likör- und Hundesorten? Zum anderen überlappen die Erbgutprofile verschiedener Bevölkerungen ganz enorm, während gleichzeitig sehr verschiedenartige Menschen zum selben Volk zählen können. Deshalb gab sich auch das Arier-Ideal nur allzu leicht dem Gespött preis: «blond und blauäugig wie Hitler...».

Längerfristig isolierte Stammlinien lassen sich nicht unterscheiden, weil wir alle Afrikaner sind – wenn auch massenweise im Exil. So hätten sich die Kulturen kaum anders entwickelt, wären Australier und Europäer vor 10 000 Jahren ausgetauscht worden. Denn was Kolonialgeschichte antrieb, waren sicher nicht die Gene, sondern ungleich verteilte Rohstoffe.

Mithin erlauben genetische Marker zwar, die geografische Herkunft grob zu bestimmen. Die sagen über das sonstige Erbgut einer Einzelperson aber nichts aus – beispielsweise ob jemand ein Gen trägt, das Kinder erblich schädigen könnte. Gen-Archäologen können nur Wahrscheinlichkeiten angeben: etwa, dass fast kein Chinese, aber acht Prozent aller Schweden an einer erblichen Eisenspeicherkrankheit leiden werden.

Wer derlei Zahlen in Rassen umrechnen möchte, wird sich auf ewig den Kopf zerbrechen. Und nie sicher sein vor Überraschungen. Etwa, dass hinsichtlich Nebenwirkungen von Arzneimitteln schwarzhäutige Äthiopier nicht mit Bewohnern der Subsahara, sondern mit käsegesichtigen Norwegern gruppiert werden müssen.

Das Konzept biologischer Rassen lässt sich mithin nur um den Preis wissenschaftlicher Demenz reanimieren. Gleichwohl werden «Rassen» stetig neu erfunden – selbst wenn es sich um Sprachgruppen handelt, wie die zunehmend zahlreichen «Hispanier» in den USA. Und dass Rasse Klasse ist, finden keineswegs nur ewig gestrige Rassisten. Ganz im Gegenteil: Wer meint, zu einer Minderheit zu gehören, dem wird über «positive Diskriminierung» oft mehr als nur ein Quoten-Stückchen vom sozialen Kuchen zugeschoben – wie an der Universität Michigan, wo’s bei der Bewerbung Pluspunkte für seltene Hautfarbe gibt. Statt «Farbenblindheit» zu fördern, erfindet politische Korrektheit den Rassismus unter umgekehrten Vorzeichen neu: als ausgleichende Gerechtigkeit für das von Vorfahren erlittene Unrecht.

Warum aber drängt es uns überhaupt, Eigenes von Fremdem unterscheiden zu wollen? Die evolutionäre Psychologie meint, diese Neigung – wie unsympathisch, wie bedauerlich sie sich entladen mag – sei tief in uns verwurzelt. Denn beim Güterstreit mit Nachbargruppen, der die Menscheitsgeschichte durchzieht, sei humanitäre Toleranz weniger nützlich als derbe Faustregeln über «Wir» und «Sie». Ethnozentrischer Nahkampf lässt eben keine Feinheiten zu.

Wann wird ein Becher zur Tasse?

Befürworter und Kritiker des Rassenkonzeptes setzen dabei einen Zwist fort, der schon unter den Philosophen des Mittelalters entbrannte: den zwischen Essentialisten und Nominalisten. Erstere behaupten, in Nachfolge der platonischen Lehre von den unwandelbaren Ideen, dass äusserlich Ähnlichem ein gemeinsames Wesen zugrunde liegt. So seien Whisky-, Wein- und Zahnputzgläser Variationen der vollkommenen Urform eines Bechers. Die Nominalisten hingegen behaupten, ähnliche Einheiten verbände weiter nichts als ein «Nomen», ein Namen. Wer will schon entscheiden, ab welchem Punkt ein Becher zur Tasse wird und schliesslich zur Schale? Und ab wann genau soll schwarze Haut als dunkelbraun gelten und braune als weiss?

Dass Rassen nicht «wirklich» existieren können, sollte im Lichte der Evolutionstheorie ohnehin unmittelbar einleuchten. Denn wenn wir die zahlreichen Zweige am Stammbaum der Menschheit im Querschnitt betrachten, können wir zwar mehr oder weniger typische Cluster von Genen ausmachen. Jenseits aber dieser Momentaufnahme, im Längsschnitt der Stammesgeschichte, löst sich deren Identität zwangsläufig auf – ist doch die biologische Perspektive nicht eine von Konstanz und «Essenz», sondern von stetigem Wandel.

Ergo: Rassen gibt’s nicht. Nur Rassismus.

Volker Sommer lehrt evolutionäre Anthropologie an der Universität London.

Er ist Autor des Essaybandes «Von Menschen und anderen Tieren». Hirzel, 2000. 200 S., Fr. 39.20.

(Quelle: www.weltwoche.ch)

Links:

* http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Friedrich_Blumenbach

* Literatur von und über Johann Friedrich Blumenbach im Katalog der DDB

* Entstehung der Begriffe „Rasse" und „Rassismus"

* Wurzeln des Wahns


Johann Friedrich Blumenbach
1752-1840

Johann Blumenbach was born into a cultured, wealthy Protestant family to his father, Heinrich and his mother, Charlotte Eleonore Hedwig Buddeus in Gotta, Germany on May 11 (Gillispie 203). At an early age, Blumenbach was exposed to literature and natural science. He completed his Gymnasium studies in 1769. He furthered his studies at the University of Jena and the University of Gottingen. In 1775, at the University of Gottingen he received his M.D. His studies at Jena and Gottingen influenced his later works. At Jena, his interests were in the study of fossils. In Gottingen, he was interested in natural history, which encouraged him to write his doctoral dissertation. His dissertation, De generis humani varietate nativa liber, became world-famous, translated in several different languages and is considered one of the basic works on anthropology.


It was first published in 1776. After this, he was appointed professor at Gottingen and in 1778 he was a full professor of medicine. His teachings were on comparative anatomy, which later was influential (Poter et al 65). In 1788, he was married to the daughter of Georg Brandes, who held an influential position in the administration at the University of Gottingen and a brother-in-law, Christian Gottlieb Heyne, a classics scholar. These connections helped strengthen Blumenbach’s influence at the university. In 1816, he was appointed professor primarius of the Faculty of Medicine (Gillispie 203). Blumenbach later studies were based mainly on his role in the founding of scientific anthropology. He was one of the first scientists to view man as an object of natural history. He also mentioned in special emphases to the gap between man and animal. He shared the same beliefs with other early scientists’ view such as Georges-Louis Leclerc Buffon that an organism’s morphology was capable of being modified by the environment and that the resultant changes were inherited.


Blumenbach believed that new species could arise only by special creation. In Blumenbach’s first edition of De generis humani varietate nativa liber, which he followed Carolus Linnaeus’ system. It contains an abundance of new insufficiently evaluated morphological and ecological finds. With those studies, Blumenbach concluded a fourfold division of the human family based on geological variables (Mongolian, American, Caucasian, and African). Later on in his third edition (1795), he added a fifth geological variation, the Malayan (Spencer 185). He furthered explain in the third edition that the morphological and physiological differences between these races were mediated by the discriminatory action of an innate formative force. An idea that was selectively employed by many other scientists who were having doubts about the validity of traditional environmental explanation of human variation.


In his other work, Handbuch der Naturgeschichte (1779), he presented a compelling argument that zoological classifications should and could be based on structures associated with an animal’s specific functions. With his approach, he made an important contribution to the development of comparative primate anatomy. He noted that humans possessed a unique suite of anatomical characteristics that proved they were exclusively designed stand and walk upright (Spencer 185). Blumenbach began to separate human beings from apes, suggesting that Homo be assigned to a different and separate zoological order. This technique of separation between humans and apes were widely adopted and continued to the mid-19th century.
Well into the mid-19th century, Blumenbach suggested a thesis interest in neuro- and cranioanatomy in which there was a direct correspondence between intelligence of an organism and the level of its structural organization. This thesis was always in speculation and in arguments. Although, Blumenbach was a pioneer collector of human crania and often cited as the fonder of craniology, he didn’t contribute to the development of any craniometric methods. However, he concluded by comparing his cranial collection, he viewed them “from above and from behind, placed in a row on the same plane…then all the most conduces to the racial character of skull…strikes the eye so distinctly at one glance, that is not out of the way to call that view the vertical scale.” (Spencer 186). Blumenbach died in Gottingen, Germany on January 22 (Gillispie 203).


References:
Gillispie, Charles Coulston. “Johann Friedrich Blumenbach.” Dictionary of Scientific Biography. 2(1970): 203-204.
Poter, Roy et al. “Johann Friedrich Blumenbach.” The Blackwell Companion to the Enlightenment. 1991: 65.
Spencer, Frank. “Johann Friedrich Blumenbach.” History of Physical Anthropology and Encyclopedia. 1(1997): 183-189.
Written by Suong Su

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