Eindrücke auf einer Reise nach Georgien - Bergwandern in Swanetien
Von Elisabeth Kapell
"Maaazooni, Maaazooni, Maazooni" - Lautstark und mit langgezogenen Silben preist eine alte Frau ihren Joghurt im Innenhof einer Plattenbausiedlung in Tbilisi an. Auch im neunten Stock der Siedlung im Mikrorayon vier der georgischen Hauptstadt ist ihr Angebot noch gut zu hören, es vermischt sich mit Kinderlachen, Hundegebell und Autogehupe. Die Frau zieht weiter zum nächsten Häuserblock, ihre Stimme verliert sich, eine andere taucht auf. Ein Mann will seine frischen Feigen loswerden, die er auf einem Pferdekarren mit sich führt. Langsam kommt Leben in die Neubausiedlung. Ein Bewohner des gegenüberliegenden Hauses sorgt mit Wasser dafür, dass seine Rankepflanzen die Sommerhitze überstehen. Er nutzt die Gunst der Stunde, es gibt Wasser, und das ist meist nur frühmorgens für rund zwei Stunden der Fall. Seine sattgrünen Pflanzen sind mit den bunten Wäschestücken an den Balkonen die Farbtupfer im dominierenden Betongrau. Im Innenhof der beiden gegenüberliegenden Wohngebäude stehen Autos, von stolzen Besitzern wie Raubtiere in Drahtkäfigen verschlossen. Junge Hunde, die kaum die Augen offen halten können, kuscheln eng aneinander, eine Ratte wagt den Blick aus ihrem Loch und einen anschließenden Spaziergang. Die 15 Reisenden aus Deutschland, für die die Neubausiedlung in Tbilisi, die erste Station ihrer Reise ist, registrieren die Selbstverständlichkeiten des georgischen Großstadtlebens mit dokumentarischem Interesse, verfolgt von den Blicken der Bewohner, die jeden, der nicht ihr Leben und ihren Mangel teilt, sofort aufmerksam registrieren.
Mit den groben Wanderschuhen an den Füssen, bepackt mit dicken Rucksäcken an denen Isomatten und Zelte befestigt sind, fallen sie bei der Ankunft sofort auf. Am Hauseingang stehend oder aufs Fensterbrett gestützt, das Kind oder die Ehefrau neben sich, beobachten die Bewohner der Siedlung wie die Ausländer, einem uniformen Sondereinsatzkommando gleich, das Treppenhaus "erstürmen". Schlafende Hunde und ein Haufen Sand, der eine der vielen überfälligen Reparaturen ankündigt, sind dabei zu überwinden. Dem Fahrstuhl will keiner so richtig trauen, außerdem sind die zahlreichen Stufen in den neunten Stock ein gutes Training für die Berge Swanetiens. Die Häuser, die 1984 errichtet wurden, zeigen deutliche Zeichen des Zerfalls und dokumentieren den privaten und öffentlichen Geldmangel. Der Beton bröckelt innen und außen. Von oben setzt den Gebäuden vor allem der Regen zu. Er hat im obersten Stockwerk seine Spuren auf den Tapeten hinterlassen. Die Wohnungen sind mittlerweile privatisiert, sie gehören nun den früheren Mietern. Strom- und Wasserrechnungen zahlt schon längst niemand mehr. Doch trotzdem gibt es hin und wieder Wasser und Energie. Politische Wahlen im Herbst werden als Begründung dafür genannt, daß die Versorgung mit Elektrizität zur Zeit einigermaßen stabil ist. Illusionen sind hier fehl am Platz. Die Familie, deren Fünf-Zimmer Wohnung das erste georgische Quartier der Reisegruppe ist, hält sich in Zypern auf. Familienvater und Sohn haben dort Arbeit auf dem Bau gefunden.
Die Gebirgsregion "Swaneti", die im Westen an die ehemals autonome georgische Republik Abchasien und im Norden an die russische Grenze stösst, ist nur schwer zugänglich. Über Sugdidi, der Hauptstadt der fruchtbaren Kolchisebene und der georgischen Region Megrelien haben wir uns den Bergen Swanetiens genähert. Vorbei an der russischen "Friedenstruppe", die die Grenze zur abtrünnigen Region Abchasien sichert, geht es hinauf in die Bergregion des Großen Kaukasus. Die schmale Straße, die erst 1935 von den Russen gebaut beziehungsweise in den Fels gesprengt wurde, ist eine gut zu kontrollierende Eintrittspforte in die abgelegenen Hochgebirgstäler Swanetiens. Die Straße schlängelt sich durch das zunächst sehr enge Tal des Inguri-Flusses langsam und kontinuierlich in die Höhe: Sie ist eine von zwei Möglichkeiten nach Swanetien zu gelangen, das ansonsten nur noch über eine Passstraße im Osten zugänglich ist. Der "zentralgeorgische Stamm der Swanetier", der auf rund 20.000 Menschen geschätzt wird, konnte sich durch diese Abgeschiedenheit bis in die Gegenwart noch "zahlreiche ursprüngliche Sitten und Gebräuche" erhalten. So jedenfalls formuliert es ein noch zu Sowjetzeiten erschienener Reiseführer. Perser, Araber und Osmanen, die im Laufe der Jahrhunderte Georgien besetzten und dem Land zwischen Europa und Asien ihren Stempel aufdrückten, sind bis in die Berge Swanetiens nicht oder zumindest nicht dauerhaft vorgedrungen. Erst den Russen, beziehungsweise der Roten Armee, die die junge Demokratische Republik Georgien 1921 besetzte, lag daran, auch den letzten Winkel des transkaukasischen Landes zu kontrollieren. Sie bauten die "Hauptstrasse" nach Mestia, der Hauptstadt Swanetiens. Im Winter ist die Region, so hören wir von den Einheimischen, so gut wie von der Welt abgeschnitten. Und wir sind im Sommer schon froh, dass wir einen unerschrockenen Georgier mitsamt Bus angeheuert haben. Unser Fahrer, ein ehemaliger Ingenieur, hat das etwas verbeulte und verschweißte Gefährt, mit dem er ansonsten einige Linien in der Umgebung der Hauptstadt bedient, mit einem Panzerwagenmotor aufgerüstet. Es hält die Schlaglöcher, die wegen ihrer Größe nicht umfahren werden können, aus.
"Warum nimmst Du die Kalaschnikow mit in die Berge?" - Am Blick des einheimischen Reisebegleiters und seiner Antwort merkt man, dass ihn die Frage irritiert. Er gehört mitsamt seines Pferdes und drei weiteren Reitern zur Reisekarawane in den Bergen. Sie waren kurz nach unserer Ankunft in den Bergen neben uns aufgetaucht, und wurden dann spontan als Lastträger engagiert. "Prosto tak", lautet nach einigem Zögern seine Antwort auf russisch. "Einfach so." - "Schlechte Menschen gibt es überall und dann ist es besser bewaffnet zu sein", ergänzt sein Landsmann, ein ehemaliger bekannter georgischer Ringer, der im Sommer auf der Alm lebt, an der wir gerade auf dem Weg zum Gletscher vorbeikommen. Er hat Zeit und Lust, uns ein Stück zu begleiten. "Außerdem gibt es hier auch Wölfe und Bären." - Doch denen begegnen wir nicht, sondern freundlichen Bewohnern einer kleinen Almsiedlung. Eine ältere Frau mit rotwangigem Gesicht, die mit ihren Töchtern und mit Schweinen und Kühen für drei Monate im Sommer in den Bergen lebt, versorgt uns mit Wasser und Blaubeeren. Auf dem Rückweg bietet sie duftenden, noch warmem Chatschapuri an, ein georgisches Nationalgericht bei dem Käse und Kartoffeln oder auch Fleisch in einen Brotfladen eingebacken werden. Wir nehmen uns Zeit für einen ausgedehnten Plausch, der die Neugier auf beiden Seiten fürs erste zufriedenstellen kann und erholen uns bei frischem Quellwasser. Zwischen den kleinen Holzhütten laufen die Schweine hin und her, im Hintergrund leuchtet die Spitze des Ushba in der Abensonne. Wir sind auf unserer ersten Tour im Gebirge, auf dem Rückweg vom Gul-Gletscher am Fuße des Berges Ushba, der mit seiner Höhe von 4707 m und seiner steil aufragenden Gestalt ein beeindruckender Berg Swanetiens ist, bekannt auch als "kaukasisches Matterhorn".
Nach zwei Nächten verlassen wir unseren wunderschönen ersten Zeltplatz in den Bergen. Noch unterhalb der Baumgrenze gelegen, erlaubt er einen schönen Blick ins Tal mit dem Dorf Mazeri und zum gegenüberliegenden Gebirgszug, dessen höchste Erhebung der Berg Laila (4010 m) ist. Am Abend wirft der Mond sein weißes Licht auf einen großen alten Baum, der auf einer Anhöhe steht und lässt die Ruine daneben geisterhaft erscheinen. Sie erinnert nur noch entfernt daran, dass hier einmal dauerhaft gelebt wurde. Jetzt kommen vereinzelt Frauen und Kinder vorbei, die auf den höhergelegenen Almen arbeiten, oder Männer mit Ochsengespannen, die die typischen swanetischen Holzschlitten ziehen. Diese sind in den Bergen, wo es keine breiten Wege gibt, immer noch ein wichtiges Transportmittel. Neugierig betrachten sich Einheimische und Touristen, man grüsst auf russisch, es wird freundlich geantwortet, manchmal bahnen sich kurze Gespräche an. Meistens wenden sich die Vorbeikommenden sofort an die einheimischen Begleiter, denn schließlich kennt man sich hier oben, weiß wer im Tal dazugehört und wer nicht.
Die Pferde sind voll beladen: Rucksäcke, Zelte, der Kartoffelsack, der Brotsack, Gaskocher und natürlich der Plastikkanister mit Wein, der am Abend nicht fehlen darf, sind mit Schnüren und Stricken an den Tieren befestigt. Der große Braune und der Schimmel sind der ganze Stolz ihrer Besitzer, ihnen wird am wenigstens aufgebürdet. Ein alter Gaul, dessen Augen bereits trüb sind und der in den Ruhepausen noch nicht mal mehr grasen will, wird voll bepackt. Er bietet einen erbärmlichen Anblick. Wir würden ihn am liebsten von seiner Last befreien, doch Tierliebe hin oder her, wir sind froh über alles, was wir nicht selbst schleppen müssen. Für 40 Lari pro Tag, rund 40 Deutsche Mark (entspricht einem durchschnittlichen georgischen Monatslohn) sind die Pferdebesitzer, junge Männer aus der Umgebung des Dorfes Mazeri, bereit, uns über den Pass ins nächste Tal zu führen. Eigentlich sollte die Tour uns zunächst in das Tal führen, in dem wir parallel zum Dolra-Fluß bis hinauf zur "Südhütte" wandern wollten. Doch unsere swanetischen "Krieger", wie wir die bewaffneten Swanen nach einer Eingewöhnungszeit fast liebevoll nennen, raten davon ab. Sie hatten zuvor immer wieder ins Fernglas geschaut, im Kreis zusammen gehockt, lautstark auf swanetisch "Kriegsrat" gehalten und Warnschüsse abgegeben. Wir stehen abseits und warten auf das Ergebnis der Debatte. Debatten, vor allem unter Männern, gibt es viele in Georgien - das kann dauern.
Der swanetische Reisebegleiter, der die Gegend kennt, aber mittlerweile in Tblissi wohnt, übersetzt dem deutschen Reiseleiter die Diskussion ins Russische und anschließend übersetzt dieser uns die Gespräche der Männerrunde. Eine bewaffnete Bande, so die einheimischen Männer, mache die Gegend, in die wir ziehen wollen, unsicher. Es seien einige Männer aus ihren Dörfern, die sich zum Leben in die Berge zurückgezogen hätten und auch vor Überfällen nicht zurückschreckten. Der kollektive Adrenalinspiegel der Reisegruppe steigt. Nachdenklichkeit und Besorgnis zeigt sich in einigen Gesichtern. Zum ersten Mal kommen den deutschen Touristen, die sich blauäugig die kaukasische Bergwelt erobern wollen, Zweifel an ihrem Vorhaben. Hätte man sich vielleicht doch lieber in den vergleichsweise wohlbehüteten Freizeitpark der Schweizer Berge aufmachen sollen, anstatt sich der Pilotreise des Berliner Informations- und Studienservice, biss e.V., anzuschließen? Oder ist die aufgezeigte Gefahr nur eine geschickte Strategie, um den Tagespreis für die Reiter in die Höhe zu treiben? Wir können die Lage nicht beurteilen und entschließen uns, die Reise in eine andere Richtung weiter zu führen. Von nun an ist uns die Präsenz der Kalaschnikows nicht mehr ganz so fragwürdig. Das Knacken beim Laden der Waffe oder die spontanen Schießübungen der Swanen erschrecken uns aber immer noch jedesmal zu Tode.
"Die Berge sind ein rechtsfreier Raum", sagt unser georgischer Reiseführer, ein zu Sowjetzeiten ausgezeichneter Boxer, der mittlerweile im Innenministerium in Tibilisi ein Sondereinsatzkommando ausbildet. Er muß es wissen, schließlich hat er zuvor in der Provinzhauptstadt Mestia Polizeidienst verrichtet. Der Polizeiposten dort hat, nachdem er mehrfach abgebrannt wurde, mittlerweile ein sichereres Domizil hinter den Marmorfassaden des Postamtes gefunden. Dass der rechtsfreie Raum dabei vor allem durch die männlichen Bewohner und deren demonstrative Lässigkeit im Umgang mit der Waffe geprägt wird, versteht sich von selbst. Auch in Georgien gilt die klassische Arbeitsteilung, wenn auch die Frauen Georgiens eine besondere Wertschätzung genießen, wie uns in einem Trinkspruch versichert wurde. Als Grund werden zwei Frauen genannt, die in der Geschichte Georgiens eine große Rolle spielten. So erinnert man sich gerne der tapferen und schönen Königin Tamar, die im 12. Jahrhundert das Land zur politischen und wirtschaftlichen Blüte brachte. Sie ist für die Georgier, die nach Jahrhunderten der Besatzung ihre nationalen Wurzeln nicht vergessen haben, ebenso wie die georgisch-otthodoxe Kirche eine wichtige Stifterin der nationalen Identität. Die Königin des "Goldenen Zeitalters" taucht auf Bildern und Fresken, in Sagen und Liedern immer wieder auf. Ebenso wie die Begründerin der christlichen Kirche in Georgien, die heilige Nino, die "Erleuchterin Georgiens". Sie brachte als Missionarin die christliche Botschaft im vierten Jahrhundert nach Georgien. Die Georgier sind stolz darauf, nach Armenien das Land mit der ältesten christlichen Tradition zu sein.
Während wir in den ersten Tagen in den Bergen mit der Hitze gekämpft haben, kann man sich nun kaum mehr vorstellen, dass man es ohne Pullover und Regenjacke hier aushalten kann. Nebel, Nieselregen und ein kühler Wind setzen uns auf dem Weg zum Pass zu, der uns ins nächste Tal führen soll. Der wahrscheinlich wunderbare Ausblick am zirka 3000 Meter hohen Pass (so genau konnte das keiner sagen) bleibt uns verborgen. Die Karawane legt am Kamm angekommen, eine Pause ein. Der Ansteig war steil, die Nässe dringt langsam bis auf die Haut durch. Die Tiere müssen sich ausruhen, das Gepäck wird abgeladen. Müsliriegel und Chatschapuri, das unsere "Krieger" in Papier eingeschlagen mitgebracht haben, machen die Runde. Nach der Pause setzen wir den Weg talwärts fort. Es ist schon spät, bald fängt es an zu dunkeln. Auf einem Hochplateau gelegen finden wir einen Zeltplatz. Kurze Risse in der dichten Nebelwand lassen die Schönheit der Umgebung nur erahnen. Bei Regen bauen wir die Zelte auf, kochen den üblichen Kartoffel-Zwiebel-Fleisch-Eintopf und wärmen uns mit einem Schluck Wodka. An diesem Abend versammeln sich alle am Feuer, auch unsere vier einheimischen Begleiter stehen nicht abseits, sondern sorgen mit Kerosin dafür, dass das Feuer trotz Regen brennt. Sie trocknen Schuhe und Pullover am Feuer, sie sind ohne die für Wohlstandseuropäer übliche Regenkleidung unterwegs gewesen.
Am nächsten Morgen entschädigt uns ein herrlicher Ausblick auf grüne Hänge, die wellenförmig und sanft in weit entfernten Tälern auslaufen und der sonnige Blick auf den schneebedeckten Gipfel des Tetnuldi (4852 m) für die Strapazen des Vortages. Wir kochen Tee und Kaffee und wärmen uns an den ersten Sonnenstrahlen. Bauern kommen mit ihren von Ochsen gezogenen Schlitten vorbei. Wir sehen sie später an den gegenüberliegenden Steilhängen arbeiten, sie mähen mit der Sense Futter für die Tiere.
Die nächste Station soll ein kleiner Bergsee sein. Die Pferde müssen diesmal einen anderen Weg nehmen, denn der Fußweg ist zu steil. Wir laufen auf einem schmalen Trampelpfad auf mittlerer Höhe immer am Hang entlang und überqueren einen Gebirgsbach. Nach dieser ersten Herausforderung an diesem sonnigen Tag, geht es steil bergauf auf einen Kamm, hinter dem der See liegt. Ein kleines grün-braunes Gewässer lässt die Hoffnung auf ein Ganzkörperbad schwinden, außerdem ist der Platz zugig und für ein Zeltlager nicht geeignet. Wir sondieren mit Hilfe eines Einheimischen die Lage und ziehen am Kamm entlang einige Hundert Meter hinab auf ein schönes Hochplateau, das ausreichend Platz für zehn Zelte lässt. Außerdem gibt es eine kleine Quelle in unmittelbarer Nähe. Wir sind glücklich, der Sonnenschein ist vielversprechend. Er vertreibt nicht nur die Feuchtigkeit aus Zelten, Matten und Gliedern, sondern verspricht auch schöne Tage in herrlicher Umgebung. Das Auge kann sich in der Weite der Landschaft ausruhen auf felsig-grauen Bergen, samtig-grünen Hügeln oder auf dem Himmelsblau. Das eigene menschliche Maß wird zurechtgerückt von den Bergriesen. Man wird klein hier oben und fühlt sich doch geborgen als ein Teil der Natur. Fern der Alltäglichkeit kann sich das Herz öffnen, die beeindruckende Größe der Berge und die Stille aufnehmen. Wenn man jetzt nur seine Flügel ausbreiten könnte...
Das scheint der ideale Platz für einen Ruhetag. Doch der sollte uns an diesem schönen Ort nicht vergönnt sein. Bevor das Gewitter die Zeltplanen zum Schwingen bringt, so dass man das Gefühl hat in einem Flugobjekt über die Berge zu fliegen, verdunkelt sich über der swanetischen Bergkette der Himmel. Blitze erhellen die grau-schwarze Färbung am Horizont. Hinter unserem Rücken braut sich ebenfalls ein Unwetter zusammen. Langsam verfärbt sich auch hier der Himmel, ein schmaler Streifen weißen Lichts setzt den Bergspitzen für kurze Zeit noch eine Lichtkrone auf, dann dominiert die drohende Dunkelheit. Die Zeit reicht kaum noch, die "Küche", das heisst ein Wachstuch auf dem wir wie immer Teller, Tassen und unsere Lebensmittel ausgebreitet haben, "aufzuräumen". Ein kräftiger Regen treibt alle in ihre Zelte und testet nicht nur deren Qualität, sondern auch unsere Nerven. Immer wieder verabscheidet sich das Gewitter, um kurze Zeit später wieder mit neuer Kraft loszulegen. Es regnet die ganze Nacht und auch der nächste Tag lässt keine Besserung erkennen.
Einige Zelte sind durchweicht. Die meisten plädieren dafür, das Angebot bei der Mutter unseres swanetischen Reiseführers in Mestia Unterschlupf zu finden, anzunehmen. Bevor wir wieder in die Zivilisation nach Mestia hinuntersteigen, haben wir die swanetischen "Krieger" verabschiedet. Sie sind fort geritten, natürlich nicht ohne ihr Geld, ein großes Pallaver, das nach einem Streit um Geld aussah, ein Erinnerungsfoto und wie könnte es anders sein, der Schuß zum Abschied. Wie in einem Western, schwingen sie sich auf ihre Pferde und reiten der untergehenden Sonne zu, ins Tal aus dem wir im Laufe des Tages emporgestiegen sind. Ein beeindruckender Abgang für unsere Beschützer und Weggefährten.
Da das Wetter sich auch in den nächsten Tagen überwiegend von seiner feuchten und kühlen Seite zeigt, verbringen wir vier Nächte in der Provinzstadt. Wir besuchen das örtliche Museum, das dank der abgelegenen Lage Swanetiens einige Kostbarkeiten zu zeigen hat. Swanetien wurde in Kriegszeiten von Königen und Fürsten zur sicheren Aufbewahrung von Schätzen genutzt. Präsentation und Sicherheit der Schätze lassen jedoch wegen Geldmangels zu wünschen übrig. Ikonen aus dem neunten bis 14. Jahrhundert stehen in einem schlichten Holzregal nebeineinander, mit der Rückseite lehnen sie an der Wand. Zum Teil sind diese von Meistern mit klassischer Ausbildung hergestellt, zum Teil aber auch von autodidaktischen Künstlern Swanetiens, die entgegen der byzantinischen Tradition Menschen mit ortstypisch charakteristischen Gesichtern abbildeten. Die georgischen Silbermünzen aus der Kolchis, "Tetri" (die" Weißen") genannt und der Silberschmuck in Filigrantechnik, Zeugnisse der ehemaligen swanetischen Silberschmiedekunst, werden für die westlichen Besucher aus dem Tresor geholt und auf einem alten Schreibtisch ausgebreitet. Ebenso wie die zwei alten Dolche mit den verzierten Scheiden und der georgischen Inschrift auf der Klinge. Handschriften aus verschiedenen Jahrhunderten, auf die die Museumsdirektorin besonders stolz verweist, können dem Besucher allerdings nicht präsentiert werden. Doch trotzdem ermöglicht der Besuch im Museum in Mestia einen kleinen Einblick in die kunsthandwerkliche Kultur der vergangenen Zeiten. "Unsere Kultur ist von der russischen überlagert worden, viele Kunsttechniken sind verschwunden", beklagte die Direktorin den kulturellen Verfall Swanetiens und Georgiens.
Dass dieser heutzutage eine neue materiell begründete Dimension zeigt, beweist der leerstehende, fast fertiggestellte Neubau des Museums von Mestia, vor dem Bagger und Bauwagen langsam vor sich hin rosten. Schlechte Planung und schlechte Qualität der Umsetzung in Verbindung mit Geldmangel haben den Bau unbrauchbar gemacht, sagt die engagierte Museumsdirektorin. Sie hofft auf Sponsoren, erwähnt dass die Ikonen mit deutscher Hilfe restauriert und konserviert wurden. Wie viele Frauen Swanetiens, ob jung oder alt, ist die Kunsthistorikerin ganz in Schwarz gekleidet. Denn es stirbt immer jemand und die Trauerphase ist lang in Georgien.
Im Haus der Nonu, einer 70jährigen Frau, haben wir bedingt durch das Wetter ausreichend Gelegenheit uns mit der Ess- und Trinkultur Swanetiens bekannt zu machen. Sohn und Schwiegertochter, die ansonsten mit ihr gemeinsam das große Haus mit dem schön verzierten Holzbalkon bewohnen, sind bei Verwandten untergekommen, um den deutschen Touristen mitsamt den georgischen Begleitpersonen ein Dach über dem Kopf zu bieten. An Maria Himmelfahrt, einem der wichtigsten Feiertage in Georgien an dem man der Toten gedenkt, beginnt das Festmahl bereits am frühen Nachmittag, und zwar mit Wein und Chatschapuri. Die Frauen stehen schon morgens in der Küche, die sich im Sommer um einen großen holzbefeuerten Ofen abspielt, der unter einem Vordach im Freien steht. Sie tischen immer wieder neu auf: reichen Brot und Käse, gebratenes Kalbfleisch und Kartoffeln. Natürlich fehlt auch der Wodka nicht. Unser Fahrer führt Regie bei Tisch, er übernimmt die Rolle des "Tamada". Er bringt Trinksprüche aus, gedenkt der Toten, trinkt auf die Gastfreundschaft des Hauses, die georgischen Frauen im allgemeinen, die anwesenden im besonderen, die Natur und den Frieden zwischen den Völkern, der unsere Reise erst möglich mache. Zum Abschluss des Gelages, dass sich bis in den Abend zieht, trinken wir aus Trinkhörnern auf die Freundschaft. Beeindruckt von der mehrstündigen Zeremonie und den klugen Worten, die der Tamada findet, geben wir uns dem georgischen Ritual des Festmahles hin. Die Trinksprüche passen nach Georgien, in die einsame und rauhe Berglandschaft Swanetiens. Der georgische Wein, das trübe Wetter - Nebelschwaden, die sich am Dünkelgrün der bewaldeten Hänge festhängen - und die Andersartigkeit des Lebens machen die westlichen Besucher nachdenklich und empfänglich für existentielle und sentimentale Stimmungen. Der Regen plätschert derweil aufs Vordach und macht nur den Weg zum Plumpsklo, das etwas abseits vom Haus steht, unbequem.
Glücklicherweise hat sich die letzten zwei Tage, die wir in Mestia verbringen, die Sonne gegen Nebel und Wolken durchgesetzt. Doch auf den krönenden Abschluss unserer Bergwandertour, ein Besuch im höchstgelegenen Ort Swanetiens, dem Dorf Uschguli (2300 m), müssen wir verzichten. Ein Erdrutsch hat die Straße unpassierbar gemacht. Und zu Fuß ist der Weg in das Tal an dessen Ende der Schkhara (5068m), der höchste Berg Georgiens liegt, zu weit. Zwei Tage benötigen wir mindestens für die Rückfahrt nach Tbilisi, und deshalb entscheiden wir uns für Tagesausflüge in die nähere Umgebung von Mestia. Wir verabschieden uns nur ungern von der Idee nicht mehr im Schoß der Berge, nah am funkelden Sternenhimmel und dem leuchtenden Mond zu nächtigen. Der Chatyntau-Gletscher, der seinen breiten, meterdicken Eismund, eine große eisblaue Höhle, gewaltig aufreisst, und das Tal des Flusses Mestiachala geben sich alle Mühe uns zu beeindrucken.
"Warum wollt ihr denn eigentlich in die Berge?" hatten sie gefragt, die swanetischen Reiter. "Einfach so", war die Antwort, die ob der mangelnden russischen Sprachkenntnisse ebenso dürftig ausfiel wie ihre Antwort auf die Frage nach der Funktion der Kalaschnikow in den Bergen. Doch auch die späteren vereinten Versuche unseren Aufenthalt zu begründen, und zwar mit der Schönheit der Berge, der Freude am Zelten in freier Natur, sofern sie sich von der sonnigen Seite zeigte, und natürlich die grundsätzliche Neugier auf Georgien hinterliesen nur Unverständnis auf ihren Gesichtern. Wie konnte jemand den geregelten und gesicherten Alltag in Deutschland zu Gunsten der Unsicherheit der kaukasischen Berge verlassen. Was für uns wirklich schön ist an "ihren" Bergen, die sie lieber heute als morgen verlassen würden, bleibt ihnen ein Rätsel.
Bergwandern in Swanetien - Pilotreise in den Goßen Kaukasus
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