Merkwürdigkeiten des russischen Kalenders,
den man auch in Georgien antrifft.
Russland ist offenbar ein Land, in dem mehrere Kalender und mehrere Lebensstile gleichzeitig existieren.
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MOSKAU, 07. Januar (Wladimir Pronin, RIA Nowosti). Die langen Januarferien in Russland finden ihren Abschluss am 14. Januar, einem Tag mit der für Uneingeweihte sonderbaren Bezeichnung "altes Neujahr". Heute jedoch, am 7. Januar, wird in Russland das "rechtsgläubige" Weihnachten gefeiert. Zuvor begingen die Bürger Russlands zusammen mit der ganzen Welt Neujahr, und viele von ihnen feierten noch früher, am 25. Dezember, das "katholische" Weihnachten.
In Russland ist man an das doppelte Neujahr und das doppelte Weihnachten so sehr gewöhnt, dass niemand sich mehr Gedanken über das wahre Datum der eigentlichen Weihnacht, der von Christi Geburt, und den "richtigen" Kalender macht. Heute fällt es schwer, sich vorzustellen, dass ein Tag und eine Nacht nicht immer 24 Stunden und Monate nicht unbedingt 30 oder 31 Tage zählten. Die Sumerer oder die Altägypter hatten eine völlig andere Art der Zeiteinteilung. Deshalb stolpern wir oft, wenn wir in der Bibel zum Beispiel lesen, in uralten Zeiten lebten die Menschen bis zu 500 Jahren. Es kommt darauf an zu verstehen, wie diese oder jene Völker ihre Zeit maßen. Die Frage ist kompliziert, und schon in uralten Zeiten wurde sie heftig umstritten.
Zu Beginn unserer Ära hatten die Römer durch ihre Eroberungen ein einheitliches und mächtiges Reich geschaffen, zu dem nicht nur der Mittelmeerraum, sondern auch Europa, Kleinasien, der Kaukasus und Ägypten gehörten. Als Eroberer führten sie den einheitlichen julianischen Kalender ein (so genannt nach dem berühmten Feldherrn und ersten zu einem Gott erhobenen Kaiser Julius Cäsar).
Die Dispute um den Kalender begannen bald nach Christi Kreuzigung und Auferstehung. Die Christen versuchten zu klären, in welche Zeit diese Ereignisse gefallen waren, um zu verstehen, wann genau sie alljährlich das Fest feiern sollten. Gemäß dem Evangelium nach Johannes fand die Kreuzigung an einem Freitag statt. Das jüdische Passah wurde am 14. Tag des Monats Nissan (entspricht dem März oder April) gefeiert. Dieses Fest musste unbedingt in der ersten Vollmondnacht des Frühlings beginnen, das heißt nach der Frühlings-Tagundnachtgleiche (21. März). Die Astronomen des ersten Jahrhunderts arbeiteten eifrig und ermittelten zwei unterschiedliche Daten. Nach der ersten Lesart fiel die Kreuzigung auf den 3. April des Jahres 33, nach der zweiten aber auf den 7. April des Jahres 30. Doch angesichts der Zeugnisse des Evangelisten Lukas konnte Christus nicht später als 6 oder 7 Jahre vor unserer Zeit geboren werden. Folglich fand Christi Kreuzigung am 7. April des Jahres 30 und seine Auferstehung am 9. April statt.
Diese hitzigen Streite dauerten bis zum 16. Jahrhundert, als 1582 Papst Gregor XIII. einen neuen - den so genannten gregorianischen - Kalender einführte. Zur gleichen Zeit übersprang der Papst zehn Tage des Kalenders, damit der Tag der Frühlings-Tagundnachtgleiche mit dem Datum übereinstimmte, auf welches er im Jahre 325 fiel: Gerade in jenem Jahr legte das 1. Ökumenische Konzil die Regeln fest, nach denen der Ostertag errechnet wird. Folgt man aber dem julianischen Kalender, so müsste sich das Fest mit der Zeit allmählich in den Sommer und dann in den Herbst verschieben, da der julianische Kalender alle 128 Jahre hinter dem realen Jahr um 24 Stunden zurückbleibt. Der gregorianische Kalender aber reduzierte dieses Zurückbleiben auf einen nichtigen Wert: 24 Stunden alle 3300 Jahre! Doch entstand bei der Reform ein Bruch zwischen der östlichen Kirche, die dem früheren Kalender treu blieb, und der westlichen Kirche, die zum neuen überging. Im 18. Jahrhundert betrug die Differenz zwischen beiden Kalendern 11 Tage und Nächte, im 19. waren es 12 und im 20. Jahrhundert bereits 13 Tage und Nächte.
1917 ging die Macht in Russland - die Bolschewiki - ebenfalls zum gregorianischen Kalender über. 1923 unternahm Patriarch Tichon einen Versuch, zu diesem Kalender überzuwechseln. Aber ein Jahr vor ihm hatte das - erfolglos! - die "erneuerte" Kirche versucht (es handelt sich bei dieser um eine von den Bolschewiki künstlich gebildete "fünfte Kolonne" innerhalb der russischen Kirche). Dadurch wurde die Reform kompromittiert, und der Patriarch sah sich gezwungen, sie aufzugeben.
Obwohl elf von den fünfzehn autokephalen rechtgläubigen Kirchen zum gregorianischen Kalender übergegangen sind, feiern sie Ostern nach dem julianischen Kalender. Anders steht es um Weihnachten: Mit Ausnahme der russischen, der Jerusalemer, der serbischen und der georgischen orthodoxen Kirche begehen alle anderen orthodoxen Kirchen Weihnachten zusammen mit der westlichen Welt, am 25. Dezember, also wenige Tage nach der Wintersonnenwende, sobald der Tag länger wird und die Nacht zu weichen beginnt (es gibt den Standpunkt, dass die christliche Kirche Weihnachten eigens auf diesen Tag verlegte, um zu zeigen, dass die Sonne als astronomischer Begriff nicht die Hauptsache sei, vielmehr sei es der Sieg der Sonne der Wahrheit, also Christi). Die Gläubigen der vier genannten orthodoxen Kirchen feiern Weihnachten erst 13 Tage später, am 7. Januar. Das Paradoxon besteht darin, dass Neujahr überall am 1. Januar, das heißt, nach Weihnachten, gefeiert wird, was sich in die Logik des gregorianischen Kalenders und des religiösen Bewusstseins durchaus einfügt. Die Logik des julianischen Kalenders dagegen verlangt, dass Neujahr am 14. Januar begangen wird. Daher rührt denn auch ein für die Nichtrussen so unfassbares Phänomen wie das "alte Neujahr". Übrigens leben die Menschen in den Ländern Südostasiens oder in China zum Beispiel ebenfalls nach zwei Kalendern, ihrem jeweiligen traditionellen und dem europäischen, und feiern Neujahr zweimal. Russland hat offenbar ebenfalls die Aussicht, ein Land zu werden, in dem mehrere Kalender und mehrere Lebensstile gleichzeitig existieren. Da kann jedermann das wählen, was ihm am meisten zusagt.
Im Übrigen haben die Streite um die Kalender wohl kaum eine direkte Beziehung zu Glaubensfragen. Gegenwärtig arbeitet eine internationale Kommission an der Schaffung eines "Weltkalenders". Sobald er da ist und ins Leben tritt, wird es vielleicht sinnvoll sein, den Kirchenkalender zu revidieren.
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