Sunday, November 30, 2008

INTERVIEW: Andrej Nikolajewitsch in Radio Echo Moskvy

Andrey Nikolayevich Illarionov (RussianАндре́й Никола́евич Илларио́нов) (born September 161961) is a Russian libertarian economist and former economic policy advisor to the President of RussiaVladimir Putin. He currently works as a senior fellow in the Center for Global Liberty and Prosperity at theCato Institute in Washington, DC. 

S. Buntman – Wir haben am Telefon Andrej Illarionow. Guten Tag Andrej Nikolajewitsch. 

A. Illarionov – Guten Tag.  

S. Buntman – Gleich werden wir über Süd-Ossetien und Georgien sprechen. Zuerst haben wir aber eine Frage an Sie im Hinblick auf die aktuelle Marktkonjunktur. Urals [Rohöl] sank unter 60. Was hat das für Folgen? 

A. Illarionov – Vorerst keine. Noch bezeugt dies, dass die Preise sich in Richtung der langfristigen Ebene bewegen, die sich im Laufe der langen Zeit beobachten ließ. Und bei 60 Dollar oder sogar bei etwas weniger übersteigt dieser jenen Jahresdurchschnittspreis immerhin um das mehrfache, der innerhalb von mehreren Jahrzehnten festzustellen war. Daher genießt Russland nach wie vor einen enormen Ertrag von erhöhten Preisen auf  Energielieferungen.  

S. Buntman – Aus unbestimmten Gründen schreibt man heute, dass die Entscheidung der OPEC-Länder, die Ölförderung einzuschränken, sich nicht bewährt habe und deshalb auch die Preisen der futures[Termingeschäfte] niedrig seien.    

A. Illarionov – Man sollte niemals erwarten, dass diese oder jene Entscheidungen in ein paar Stunden gleich auf die Dynamik der Marktindikatoren auswirken werden. Die OPEC ist für ihre dürftige Disziplin wohl bekannt. Die Entscheidungen werden getroffen, aber nicht immer durchgezogen. In jedem Fall ist eine Geste, eine Entscheidung viel zu wenig, irgendwelche Vorhersagen zu machen, sogar die über eine mittelfristige Perspektive bezüglich der Ölpreisschwankungen.  

S. Buntman – Gut, vielen Dank. Das war eine kurze Anmerkung zur gegenwärtigen Wirtschaftslage. Nun wenden wir uns unserem Thema zu. Erzählen Sie, wo waren Sie? 

A. Illarionov – Ich war in Tiflis und danach bin ich durch mehrere Landesteile Georgiens gereist, auch durch die meisten Regionen, die von der kriegerischen Auseinandersetzung heimgesucht worden sind: Westlich von Tiflis, in Richtung Gori, ländliches Gebiet, das an Süd-Ossetien grenzt, Süd-Ossetien selbst, Zchinwali, alsdann war ich in Bordschomi, das der Bombardierung durch Kampfflugzeuge ausgesetzt war. Ebenfalls durchfuhr ich Regionen von Kaspi und Khareli, die unter massiven Luftangriffen litten und wo es Zerstörungen durch diese Bombardements gibt und auch noch die Landesteile, die von russischen Truppen besetzt wurden.      

M. Gajdar – Mit wem haben Sie sich getroffen?  

A. Illarionov – Ich habe mich mit der georgischen und der ossetischen Führung getroffen.  

M. Gajdar – Und mit der georgischen Opposition? 

A. Illarionov – Auch mit den Vertretern der georgischen Opposition bin ich zusammengekommen. Ich muss sagen, dass der Verkehr mit ihr sich als sehr nutzbringend erwies. Denn in der georgischen Opposition teilt man viele Herangehensweisen nicht, die von der georgischen Regierung benutzt worden sind. Und der Umgang mit ihr gab mir eine sehr nützliche Information aus etwas anderem Blickwinkel.        

S. Buntman – Jetzt lassen Sie uns vom Allgemeinen zum Speziellen übergehen. Zunächst generelle Eindrücke und dann die Details. 

A. Illarionov – Weil die Frage lautete, ob ich mich mit der georgischen Opposition getroffen habe, so kam ich in Georgien tatsächlich sowohl mit der Führung als auch mit der Opposition zusammen. In Süd-Ossetien hab’ ich dagegen keine Opposition vorgefunden. 

M. Gajdar – Haben Sie sie gesucht? 

A. Illarionov – Wissen Sie, es ist ziemlich schwer, in Süd-Ossetien überhaupt jemanden zu finden, der in irgendeiner Weise nicht mit der dortigen Führung in Verbindung stünde. Und es sieht recht heikel aus, von den Führungskräften auf dem süd-ossetischen Territorium ganz und gar loszulösen, zumindest für jemanden, der von außerhalb Süd-Ossetiens kommt.

M. Gajdar – Ich hab’ mir gedacht, dass es schwer ist, dort überhaupt jemanden zu finden. 

A. Illarionov – In der Tat, es ist nicht gerade leicht, dort die Menschen zu finden, denn allem Anschein nach ist die Einwohnerzahl in Zchinwali und Süd-Ossetien wesentlich weniger im Vergleich zu der Menschenmenge, die dort offenbar einst gelebt haben soll. Nach meinen vorläufigen Schätzungen hat Zchinwali im Moment weit weniger Einwohner als es angegeben wird.    

M. Gajdar – Heißt das, dass sie im Zuge der Kriegshandlungen fliehen mussten? 

A. Illarionov – Ich hatte nicht den Eindruck, dass dies mit kriegerischen Handlungen verbunden war. Es ist doch wohl bekannt, dass bis zum 7. August die 17.000 Menschen aus Süd-Ossetien innerhalb von nur sechs Tagen evakuiert worden sind. Das sind die Angaben von FMS [Migrationsbehörde] Russlands. Anfang August, sogar nach offiziellen Meldungen, überstieg die Gesamtzahl der ossetischen Bevölkerung ganz Süd-Ossetiens – es umfasst nicht nur Zchinwali und umliegende ossetische Dörfer, sondern auch eine Reihe anderer Teilgebiete, Dschawa und andere – nicht die 40.000 Einwohner. Die 17.000 Menschen von sämtlichen ossetischen Einwohnern Süd-Ossetiens machen somit praktisch die gesamte Zivilbevölkerung aus.     

S. Buntman – Wohin wurden sie denn hingebracht? 

A. Illarionov – Auf das Territorium der Russischen Föderation, vor allem nach Nord-Ossetien, aber auch in andere Teilrepubliken des Nordkaukasus. Laut der Feststellungen russischer Journalisten, die sich am 6. und 7. August in Zchinwali aufhielten, waren 80 bis 90% der Zivilbevölkerung aus Zchinwali und ossetischen Dörfern bereits evakuiert. Dort blieb fast lediglich die männliche Bevölkerung dienstpflichtigen Alters.     

M. Gajdar – Aber sie wurden doch gewiss nicht deswegen evakuiert, weil es ihnen gut ging? 

A. Illarionov – Eine Entscheidung wurde getroffen, die beginnend mit dem 2. August ausgeführt wurde. Das war eine zentralisierte Entscheidung. Zum ersten Mal in der beinahe 20 jährigen Geschichte des Konflikts wurde nahezu die gesamte Zivilbevölkerung evakuiert und das warf große Fragen auf, unter anderem auch für die georgische Seite. Denn noch nie haben süd-ossetische Machthaber in der Vergangenheit, einschließlich der Phasen als es zu gelegentlichen kriegerischen Auseinandersetzungen und dem Schusswechsel kam, die gesamte Zivilbevölkerung aus Süd-Ossetien fortgebracht. Diese Operation wurde bis zum 7. August durchgeführt, und zwar genau bis zum Abend des 7. August, als sich die kriegerischen Handlungen verschärften.      

S. Buntman – Gab es die Evakuierung der georgischen Bevölkerung aus Süd-Ossetien bis zum 7.-8. August? 

A. Illarionov – In diesem Zusammenhang gibt es widersprüchliche Angaben. Mindestens in diesem Ausmaß und von derartiger Abwicklung mit Sicherheit nicht. Später tauchten jedoch einzelne Mitteilungen auf, die aber nicht vollständig überprüft worden sind, dass manch einer evakuiert worden sei. Aber allem Anschein nach hat der Großteil der Bevölkerungsevakuierung georgischer Enklaven, vor allen Dingen Khurtha, Thamarascheni nördlich von Zchinwali, bereits am 8., 9. und 10. August stattgefunden.     

M. Gajdar – Und was beweist das? 

A. Illarionov – Das beweist gar nichts. Dies gibt bloß die Information all denen, die gerne wissen möchten, wie und in welcher Reihenfolge sich die Ereignisse zutrugen. Es ist ungemein wichtig zu verstehen, wer wann Entscheidungen traf. Aus diesem Standpunkt gesehen, wenn das irgendetwas anklingen lässt, dann bemerkten zweifelsohne zahlreiche Beobachter, dass sich einige Ereignisse in der ersten Augustwoche auf der süd-ossetischen Seite abgespielt hatten, deren vergleichbares Beispiel auf der georgischen Seite nicht vorhanden war. Wenn jemandem das interessiert, so mache ich die Interessenten darauf aufmerksam, dass am 1. August die Evakuation der Zivilbevölkerung stattgefunden hat, am 2.-3. August die Mobilisierung im Nordkaukasus erklärt worden ist, die so genannte Mobilmachung der Freiwilligen und Kosaken um Süd-Ossetien zur Hilfe zu kommen. All denen, die mit der Kriegsorganisation vertraut sind, ist wohl bekannt, dass den Kampfhandlungen eine Mobilisierungserklärung vorausgeht. Die Geschichte des Ersten Weltkriegs, die der anderen Kriege zeigen, dass wenn eine Mobilisierung erklärt wird, wird es übermäßig schwer, ja so gut wie unmöglich, weitere Zuspitzung der Kampfgeschehnisse zu verhindern. Ab dem 3. August fangen die Freiwilligen an, in Süd-Ossetien einzutreffen, 300 bis 1000 Mann jede Nacht. Es sind jene Freiwilligen, über welche die Organisatoren des Marsches mitteilen, dass diesmal, ich zitiere: gebe es hier keine Willkür. Alle Freiwilligen werden in den Militärkommissariaten der Teilrepubliken des Nordkaukasus registriert und wir schicken alle als organisierte Kolonnen nach Süd-Ossetien. Ab dem 4. [August] erscheinen einige Spezialeinheiten der russischen Armee in Süd-Ossetien. Am 6. und 7. [August] trifft dort eine große russische Journalistengruppe ein, die speziell dafür gedrillt ist und anstrebt, den Krieg zu beleuchten. Im Grunde genommen sind ossetische Medien ab Ende Juli, insbesondere aber ab den ersten Tagen im August förmlich überfüllt mit Informationen, dass es einen Krieg geben werde, dass wir uns für den Krieg vorbereiteten. Dabei sei aber wichtig, dass die 58. Armee uns nicht hinters Licht führe und uns unterstütze. All diese Mitteilungen sind am 3., 4., 5. und 6. Juli gemacht worden. Schauen Sie sich entsprechende Berichte der Ossinform, des ossetischen Radios, des Staatskomitees für die Informationspolitik Süd-Ossetiens an. Alle sind gleichsam hoch gestimmt, denn der Krieg erwartet sie.                              

S. Buntman – Andrej Nikolajewitsch, was sind die Bezugsquellen all dieser Mitteilungen, über Evakuierung, Mobilisierung, außer, dass die Informationen im Internet zu finden sind.    

A. Illarionov – Ich muss sagen, dass ich hauptsächlich russische und ossetische Quellen benutze bis auf die sehr selten vorkommenden Ausnahmen. Ich habe absichtlich diese Entscheidung getroffen, zu versuchen, die Inanspruchnahme georgischer Quellen zu verringern. Bei den russischen und ossetischen Quellen handelt es sich um die Vorlagen, die unter anderem auch bis zum Abend des 7. August veröffentlicht worden sind.      

S. Buntman – Wir haben eine Meldung bekommen, Illarionov spreche irgendwie mit Bedauern darüber, dass es beizeiten geschafft worden sei, die Mehrheit der Zivilbevölkerung in Sicherheit zu bringen und somit Saakaschwili nicht gelungen sei, das Ziel zur Vernichtung der Bevölkerung zu erreichen.  

A. Illarionov – Ich weiß nicht, wo und wem es leid tat, ich aber halte es für sehr gut, dass die Zivilbevölkerung evakuiert worden ist. Aber selbst die Tatsache, dass… 

M. Gajdar – Übrigens gut für wen? 

A. Illarionov – …die Zivilbevölkerung fortgebracht worden ist, weist eben darauf hin, dass wenn russische und süd-ossetische Machthaber tatsächlich gewollt hätten, das Leben der Menschen, die in Süd-Ossetien lebten, zu retten, so hätte dafür auch keine Schwierigkeit bestanden. Denn in diesem Fall hätte man die gesamte Bevölkerung evakuieren und alle Menschen am Leben halten können. Und dann wäre auch niemand ums Leben gekommen, in keiner der Phasen. Ich glaube, es wäre der beste Ausgang jedes Konflikts, wenn niemand getötet würde. 

M. Gajdar – Sie haben Menschen angetroffen. Für sie ist doch ein großes Problem, auf der Flucht zu sein. Womöglich wollten sie einfach nicht weggehen. Es ist für sie doch eine absolute Tragödie, ihr Heim zu verlassen, in den Bus zu steigen und mit Koffern und Kindern irgendwohin zu fahren.   

A. Illarionov – Im Zuge des Verkehrs mit den Menschen in Süd-Ossetien hab’ ich einen sehr eigentümlichen Eindruck gewonnen. Ich verstehe, dass dies eine relativ kurze Reise war. Selbstverständlich bin ich auch nicht mit jedem zusammengekommen, und sogar die Begegnungen, die ich in diesem Zeitraum hatte, konnten kaum für eine Repräsentativerhebung der süd-ossetischen Bevölkerung reichen. Sicherlich gibt’s hier Besonderheiten. Dennoch durch das, was ich von verschiedenen Menschen erzählt bekommen habe, sind drei wesentliche Haltungen deutlich zu erkennen, über die ich Sie gleich in Kenntnis setzen werde. Diese wurden von ganz unterschiedlichen Menschen bekundet, sowohl von den so genannten einfachen Leuten als auch von Regierungsbeamten. Die erste Meinung lautet wie folgt: wir haben die Georgier davongejagt und ihr Land besetzt. Das ist sehr gut. Von nun an gehört es uns. Georgier werden hier nie wiederkehren. Diese Betrachtungsweise klang bei einigen Menschen ziemlich eindeutig, unmissverständlich und vollkommen unabänderlich. Der zweite Aspekt, der ebenso offenkundig zum Vorschein gekommen ist, drückt sich etwa so aus: Wie schade, dass man uns nicht bis nach Tiflis vordringen ließ. Und die dritte Art der Haltung stand in Verbindung mit den Diskussionen möglicher Handlungen der russischen Bürger, einschließlich des russischen Militärs in Süd-Ossetien. Hier wurde ein gewisser Verdacht ausgesprochen, das russische Militär könnte in irgendeiner Weise gegen die Interessen Süd-Ossetiens und der süd-ossetischen Bevölkerung agieren. Die Anmerkung war recht augenfällig und ich zitiere: Hätten die Russen hier irgendetwas Schlimmes getan, wären sie niedergemetzelt. Ende des Zitats. Ich wiederhole das bewusst, weil es niemandem ein Geheimnis war, unter anderem auch nicht meinen Gesprächspartnern, dass ich Repräsentant, in diesem Fall eben Bürger der Russischen Föderation war; und dass diese „Message“, wie man es jetzt bei uns zu sagen pflegt, gehört würde 

S. Buntman – Wir werden gefragt, warum Georgien den Appell zum Gewaltverzicht nicht unterzeichnet habe? 

A. Illarionov – Von welchem Appell ist die Rede?                                     

S. Buntman – Ich habe keine Ahnung. 

A. Illarionov – In der letzten Zeit musste ich sehr sorgfältig eine große Menge Aktenmaterial einsehen, die von beiden Seiten vorbereitet und öffentlich bekannt gemacht worden sind; oder besser gesagt von vier Seiten: von der georgischen, der ossetischen, der abchasischen und der russischen. Und es ist unverkennbar, was für eine Vielzahl an Friedens-, Waffenstillstands-, Feuereinstellungsangebote von der georgischen Seite gemacht wurde, zumindest im Zeitraum zwischen April und August 2008; und wie viele Versuche unternommen wurden von Seiten der EU und anderer internationaler Vermittler um den Frieden auszuhandeln und Friedensgespräche einzuleiten. Bedauerlicherweise wurden all diese Vorschläge damals abgelehnt, allen voran aber von ossetischen und abchasischen Seiten. Am 7. August am Abend um 6 Uhr 30 hat die georgische Seite nach dem Zusammentreffen von georgischem Staatsminister für Reintegration Temur Jakobaschwili mit dem Befehlshaber des russischen Friedenstruppenbataillons in Zchinwali, Herrn Kulachmetow, und auf Empfehlung von Kulachmetow einen einseitigen Waffenstillstand beschlossen. Kurz darauf, um 7 Uhr 10, erschien Saakaschwili im Fernsehen mit einer beispiellosen Ansprache an die ossetische Seite, in der er sie um eine dringende Feuereinstellung bat. Nebenbei bemerkt, diese Ansprache ist auf Russisch veröffentlicht worden und jeder, der sie gelesen hat, wird nachempfinden können, dass sie eine Rede ohnegleichen ist. Denn Saakaschwili sprach förmlich nicht mal darüber, dass Ossetien im Rahmen eines Staates mit Georgien zusammenleben soll. Sondern das einzige, worüber er sprach, worum er nahezu bat, ich würde sagen, flehte, war die Waffenruhe; dass niemand schieße. Und offen gesagt ist derartige Ansprache für jedweden Politiker, insbesondere aber einen Staatsmann, einen Staatschef, zumal für die Staatsoberhäupter im Kaukasus beileibe nicht gewöhnlich, wie es mir scheint.                                                          

M. Gajdar – Aber auf der anderen Seite wandte er sich an seinen Gegner. Er hat doch nicht seine Soldaten aufgerufen, nicht zu schießen. 

A. Illarionov – Er hat nicht an seine eigenen Soldaten appelliert. Er gab den Befehl, der am Abend von 6 Uhr 30 bis mindestens 23 Uhr 47 desselben Abends ausgeführt wurde als die georgische Seite einen einseitigen Waffenstillstand  für 3 Stunden erklärte, der dann nicht nur drei, sondern vier Stunden bestehen blieb. Zu gleicher Zeit aber verkündete die georgische Seite mehrmals wiederholt, dass trotz einseitiger Waffenruhe die Schießerei von der ossetischen Seite andauere, oder vielmehr sie um 10 Uhr 10 abends wieder aufgenommen worden sei. Und georgische Militäreinheiten erlitten Verluste. Zu diesem Zeitpunkt erzählten sogar die georgischen Armeeangehörigen, dass es nicht einmal möglich sei, die Verwundeten aus dem Feld fortzuschaffen und baten Saakaschwili darum, das Feuer fortzusetzen. Saakaschwili wehrte sich dagegen innerhalb von 2 Stunden und sagte, „wir haben eine Feuereinstellung angekündigt und können diese Verbindlichkeit nicht missachten.“ 

M. Gajdar – Wer hat das erzählt? Wer ist Quelle für diese Angaben? 

A. Illarionov – Das erzählt die georgische Seite. Interessanterweise protestiert die ossetische Seite dagegen nicht und dementiert diese Berichte nicht. Ich muss sagen, es ist ungemein bedeutsam, worauf Maria (Gajdar) aufmerksam wurde. Worauf es ankommt, ist, dass es sehr wichtig ist, wer sich zu Wort meldet und wie die andere Seite die abgegebenen Meldungen wiederum kommentiert. Es stellt sich heraus, dass es von gegnerischen Seiten Nachrichten gibt, manche von denen jeweils von der anderen Konfliktpartei entschieden bestritten wird. Aber es gibt auch solche, die eben nicht zurückgewiesen werden. Uns, als unbeteiligten Beobachtern, scheint es jedoch, dass diese oder jene Meldungen etwa gleichermaßen Besorgnis erregend sind und bisweilen sind manch andere Behauptungen sogar gewichtiger. Aber in einigen Fällen, beispielsweise, werden die von den gegnerischen Lagern gemachten Angaben von der jeweiligen Seite nicht verleugnet. Ich werde Sie zudem auf noch eine Sache hinweisen. Vielleicht wäre an dieser Stelle wohl angebracht zu erwähnen, dass beide Seiten, ich meine in diesem Fall die ossetische und die georgische, in aller Regel keinen Hehl daraus machten, als sie aufeinander losschossen. Davon berichteten sie sowohl offiziell als auch inoffiziell und für manche von denen wird das sogar zum Gegenstand eines gewissen […] Beweisens der durch sie vollzogenen Arbeit, ja sogar des gewissen Stolzes, dass sie Schüsse abgegeben hatten. Im besonderen Maße gilt das für zahlreiche Mitteilungen auf der ossetischen Seite und in den Medien Süd-Ossetiens darüber, dass „wir die Georgier gerade unter Beschuss nehmen, unter schwerem Beschuss, und dort soll es sehr viele Leichen geben“ – berichtet eine süd-ossetische Journalistin in ihrem Artikel. Und so weiter. Und vor diesem Hintergrund gab es auf einmal Fälle, als von Schießereien gemeldet wurde und beide Seiten, sowohl die süd-ossetische wie auch die georgische, die Verwicklung vehement von sich wiesen. Sie behaupteten, sie hätten nicht geschossen. Aber es gab Schüsse. Gerade deshalb erscheinen ungefähr ab dem 3. August einzelne verwirrende Berichte und man fing an davon zu sprechen, dass möglicherweise eine dritte Partei in der Konfliktzone aufgetaucht sei.                         

S. Buntman – Wer könnte es sein? Die Marsbewohner, die Aserbaidschaner, die Türken? 

A. Illarionov – Ich weiß nicht. Zumindest anhand von Mitteilungen, die gemacht wurden, und solche Informationen über eine dritte Seite sind sowohl von der georgischen als auch von der ossetischen Seite bekannt gegeben worden. Denn man fängt an, zum Beispiel, auf georgische Stellungen Feuer zu eröffnen. Die Georgier beschuldigen dafür die Osseten, die aber recht direkt sagen, jedenfalls wie es mir scheint, dass sie nicht geschossen hätten. In einigen Fällen war es umgekehrt. Es gab nicht so viele Vorkommnisse dieser Art, aber die gab es. Und gerade als deren Konsequenz, denn dies hat am 2., 3. August angefangen, appelliert Georgien mehrmals an Russland und sucht es zur Errichtung eines gemeinsamen georgisch-russischen Kontrollpostens über den Roki-Tunnel zu bewegen, um Menschen- und Kräftebewegungen durch den Tunnel überwachen zu können. Es geht darum, dass sich jede Nacht eine Vielzahl von Menschen durch Roki-Tunnel hindurch bewegte und Georgier riefen russische Machthaber immer wieder dazu auf, die Bewegung der seltsamen bewaffneten Menschen, wie sie sagten, über den Roki-Tunnel zu unterbinden und eine gemeinsame Tunnelüberwachung zu schaffen. Sie haben sich mehrmals an die russische Seite gewandt. Ihnen schloss sich später sogar die US-Regierung an. Russland hat darauf nie reagiert. Indes, nach georgischen Angaben, besetzten die Einheiten des Bundesgrenzschutzes am 6. (August) nicht nur das nördliche Roki-Tunnelportal, bei dem sie stationiert waren, sondern nahmen auch das südliche Tunnelportal. Daher ist es natürlich, dass die georgische Seite Vorwürfe macht oder Verdacht schöpft, diese dritte Partei seien irgendwelche unbekannten Personen, die auf das süd-ossetische Territorium durch den Roki-Tunnel drangen.                                      

S. Buntman – Sarmat lässt seinen Kommentar anklingen: Illarionov lügt, indem er sagt, dass die meisten Georgier sich bis zum 9., 10., 11. August nicht hätten evakuieren lassen. Wären sie bis zum 11. August dort geblieben, hätte man aus ihnen doch Kleinholz gemacht. Gerade weil die Georgier noch vor dem August fortgebracht worden waren, fingen auch die Osseten an, sich evakuieren zu lassen. 

A. Illarionov – Ich werde derartige Kommentare nicht kommentieren. Ich sprach nicht vom 11. (August). Ich sagte, dass der Evakuierungsprozess der georgischen Bevölkerung am 8., 9., 10. (August) in Gang gesetzt wurde. Wenigstens nach denjenigen Berichten über die Evakuierung georgischer Bürger, die ich sah. Einige gingen zu Fuß über die Bergpfade. Das trug sich zu. In der Tat kamen nach georgischen Angaben, wenn ich mich nicht irre, 168 Zivilisten ums Leben. Wenn man der Landstraße entlang von Gori bis nach Zchinwali fährt, so sieht man vorbeifahrend an georgischen Dörfern, Siedlungen, in denen es keine kriegerische Auseinandersetzung gab, die verbrannten, zerstörten, gesprengten Landhäuser. Nicht alle. Dort sind etwa von 3 bis 5%  der Häuser verwüstet. Das sind, wie uns berichtet wurde, die Häuser georgischer Polizisten, der Georgier, die im Militär dienten oder georgischer Lehrer. Uns wurde erzählt, dass als die russischen Truppen sich dieser Gebiete bemächtigten, kamen ossetische Einheiten und begannen die Häuser zu Grunde zu richten je nach Besitzer, dessen Namen sie aus der Liste heraussuchten.                                                            

S. Buntman – Nach 3-4 Minuten werden wir unser Gespräch darüber fortsetzen, was Andrej Illarionov in Georgien und Süd-Ossetien gesehen hat und werden ihn bitten, mancherlei Schlüsse zu ziehen.    

[Nachrichten]     

S. Buntman – Es gibt hier eine Frage an Andrej Illarionov. „Fragen Sie bitte Andrej über seine Beziehung zur Fragenliste an Burdschanadse“.  

A. Illarionov – Zu allererst glaube ich, und das ist ungemein wichtig, dass in einem Staat jede beliebige Frage, sei es nun auf innere- oder auswärtige Angelegenheiten bezogen, diskutiert werden muss. Es ist sehr gut, dass in Georgien eine reale Opposition existiert. Es ist sehr gut, dass die Oppositionsvertreter, unter anderem solch einflussreiche und hervorragende wie Nino Burdschanadse, gleichermaßen die Regierung wie auch die Gesellschaft auffordern, mit den Entscheidungen auseinanderzusetzen, die getroffen wurden. Es ist beispielsweise wohl bekannt, dass die konservative Partei, die dem Oppositionslager angehört, von der Regierung verlangte, eine Liste der getöteten Kriegsopfer zu veröffentlichen. Und tatsächlich, nach einer Weile machte die Regierung Listen der sämtlichen verstorbenen Soldaten öffentlich bekannt. Soweit ich nachvollziehen kann, liegt die Liste der Zivilisten noch nicht vor; die der Soldaten aber ist vollständig veröffentlicht und ist für jeden zugänglich. Ich würde es als außerordentlich bedeutsam ansehen, dass mindestens etwas Vergleichbares zu dem, was sich heutzutage in Georgien vollzieht, auch in Russland stattfände, denn eine umfassende Liste der Verstorbenen – sowohl die Liste der Soldaten als auch die der Zivilisten – von Seiten der Russen und Süd-osseten wurde bislang nicht veröffentlicht.        

S. Buntman – Man verspricht es. 

A. Illarionov –  Ich habe nicht einmal gehört, dass man das versprochen hätte. Während der letzten Monate wandten sich freilich einzelne Menschen an die Regierung mit dieser Forderung; ich kann mich jedoch nicht recht entsinnen, dass irgendeine politische Partei oder politische Organisation, unabhängig davon, ob sie nun in der Staatsduma residiert oder sonst anderweitig tätig ist, von der Regierung eine lückenlose Liste der Verstorbenen auf russischer Seite verlangt hätte.                    

M. Gajdar – Sagen Sie bitte, haben Sie sich mit den Verwandten der Verstorbenen oder der Menschen getroffen, die Gewalt, Plünderungen erlitten haben? 

A. Illarionov –  Wissen Sie, ich kann nicht sagen, ob die Menschen, mit denen ich in Kontakt getreten bin, jemanden verloren hatten. Jedenfalls haben sie es mir nicht erzählt. Die Menschen, die ich wiederum in Georgien und Süd-Ossetien antraf, wollten lieber von einem allgemeinen Bild reden, davon, was sich abgespielt hatte, davon, wie es hätte ablaufen sollen und davon, was getan werden muss. Darüber sprachen sie alle. 

S. Buntman – Ich möchte einer Person antworten, die unter ihrer Mitteilung den „Chefredakteur des ossetischen Radios“ gesetzt hat, auf den Illarionov den Bezug nimmt. Er bittet darum, mit ihm telefonisch in Verbindung zu setzen. Ich würde jetzt den Chefredakteur des ossetischen Radios bitten, uns noch eine SMS-Nachricht, eine genauere, zu schicken – was der wichtiger Punkt ist, was, Ihrer Meinung nach, Andrej Illarionov nicht richtig sagt. Die nächste Frage: „Fragen Sie mal Illarionov, warum die amerikanischen Satellitenüberwachungssysteme die Truppenbewegungen durch den Roki-Tunnel am 9. August nicht erfasst haben, er aber weiß?“         

A. Illarionov – Ich weiß nicht, warum jemand angenommen hat, ich wüsste, wie amerikanische Satelliten arbeiten und was sie sehen oder nicht sehen. 

S. Buntman – Nein, Sie wussten, dass die Truppen sich bewegten, die Amerikaner wussten aber nicht. 

A. Illarionov – Es stellt im Übrigen kein großes Problem dar, über die Truppenbewegungen bescheid zu wissen, denn davon berichteten russische Medien, Nachrichtenagenturen; sogar das russische Verteidigungsministerium veröffentlichte regelmäßig Berichte über die Militärübungen „Kaukasus 2008“ von Mitte Juli bis zum 2. August, als rund 10.000 Soldaten und Offiziere mit Unterstützung von mindestens 700 Einheiten an Panzertechnik Truppenmanöver im Nordkaukasus durchführten. Die Truppen sind aber nach Beendigung der Manöver am 2. August nirgendwohin verlegt worden, sondern blieben dort. Die an diesen Übungen teilgenommenen ranghohen Offiziere und Soldaten berichten, dass ein Teil der Mitwirkenden sich nicht nur an den Manövern im Nordkaukasus beteiligt hätten, nicht nur bis hin zu Bergpässen vorgerückt seien, von dem es recht viele Publikationen auf der Webseite des Verteidigungsministeriums und in der Zeitung „Krasnaja Svesda“ (Roter Stern) gab, sondern diese Bergpässe auch überquert hätten. Einige dieser Teilnehmer erzählen ziemlich genau davon, dass „wir in Süd-Ossetien Truppenübungen hatten“. Manche verraten, dass „wir seit einer Woche auf den Hügeln stehen, die Zchinwali umgeben, und sehen, wie dort im Laufe einer Woche Schießereien stattfinden“. All dies geschah also noch vor dem 7. August.              

M. Gajdar – Amerikanische Satteliten lasen einfach die Medienberichte nicht.                               

A. Illarionov – Ich weiß nicht, was die amerikanischen Satelliten machten. Die Information über diese Vorgänge kann man in russischen Zeitungen finden. Dort wird ziemlich ausführlich geschildert, wer was und wie machte. Und die Gelegenheitsdarstellungen vieler russischer Soldaten und Offiziere bekunden gerade, dass wenigstens für sie nichts Verwunderliches oder Ungewöhnliches an diesen Prozessen war. Sie befolgten den Befehl, den sie erhalten hatten. Nach dem zu urteilen, wer von diesen Umständen erzählte, hielten sich mindesten vier Einheiten der russischen Armee in Süd-Ossetien bis zum 7. August auf, einschließlich des 135. Maschinengewehrregimentes und der 22. Brigade des Sondereinsatzkommandos. Dort standen außerdem auch etliche Panzereinheiten der regulären russischen Armee, welche zunächst an den Truppenübungen „Kaukasus 2008“ teilnahmen und anschließend nach Süd-Ossetien hinzogen. 

S. Buntman – Es gibt hier noch eine Frage. Sie waren doch in Gori, nicht wahr?

A. Illarionov – Ja, ich war dort. 

S. Buntman – Pjotr Fjodorov sprach viel davon, dass nach wie vor Bilder von Zchinwali gezeigt werden und dabei gesagt wird, dass dies die zertrümmerte Stadt Gori sei und daraus bildet sich die gesamte öffentliche Meinung in Europa und den USA. Wie sieht Gori aus? Gibt es Zerstörungen und wie ist deren Erscheinungsbild? 

A. Illarionov – In Gori hab’ ich Zerstörungen nicht gesehen. Gori ist nach georgischen Maßstäben eine ziemlich große Stadt; dazu noch eine recht aktive und dynamische Stadt, strategisch gelegen auf der Schnellstraße, die Tiflis mit der Westküste verbindet. Von Gori aus führt die Hauptlandstraße in Richtung Zchinwali. Gori und umliegende Gebiete sind die Region der traditionellen neuzeitlichen Wohnorte der georgischen und der ossetischen Bevölkerung. Josef Stalin ist wohl der bekannteste, der aus Gori gebürtig ist. Nach bestimmten Angaben, soweit ich nachvollziehen kann, war seine Mutter eine Georgierin, sein Vater ein Ossete oder Halb-Ossete (hatte ossetisches Blut). Dies ist eine übliche Konstellation für einen beträchtlichen Landesteil im zentralen Georgien – Zusammenleben der georgischen und der ossetischen Bevölkerung, die dort, soweit man folgen kann, hunderte wenn nicht tausende von Jahren zusammen lebten. Und aufgrund der Vielzahl von gemischten Ehen wurde dieses Zusammenleben als absolute Selbstverständlichkeit betrachtet und führte bis vor kurzem, allem Anschein nach, nie zu irgendwelchen Konflikten. Was nun die Zerstörungen angeht, ich sagte bereits, dass ich sie in georgischen Dörfern zwischen Gori und Zchinwali gesehen hatte. Ich habe sie auch in Zchinwali gesehen. In dieser Stadt, wenn ich nach Straßen beurteilen würde, durch die ich fahren konnte, sind von 5 bis 10% der Gebäude zerstört und ich meine auch zerstört. An einer Stelle fehlt die Wand, an einer anderen ist das Dach zerrüttet, ein Haus wurde niedergebrannt; Aber zumindest meine eigenen Impressionen stimmen ziemlich genau mit aufgenommenen Luftbildern von UNOSAT überein, die aufzeigen, dass in Zchinwali etwa 5% der Häuser zerstört sind. Dennoch erkennen Luftbilder die Zerstörungen nicht immer, welche man vom Boden aus bemerken kann. Was aber die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist, dass es im Gegensatz zu ländlichen Gebieten, wo keine Kriegsgefechte stattgefunden haben, in Zchinwali kriegerische Auseinandersetuzungen gab. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass die Stadt grün ist. Dort stehen die Bäume, die mit grünem Laub bedeckt sind und ehrlich gesagt kann ich nicht ganz begreifen, wie dort die Kämpfe stattgefunden haben sollen, dass die Belaubung erhalten blieb. Ich habe meine Begleitpersonen gebeten, mir so genannte jüdische und armenische Vierteln von Zchinwali zu zeigen, denn in letzten Monaten wurden zahlreiche Mitteilungen darüber verbreitet, dass es dort sehr schwere Schlachten gegeben hätte und dass diese Stadtteile zerstört seien. Und in der Tat, sie sind sehr zerstört. Es gibt dort freilich ein Problem. Es ist so, dass nach dem man sich die jüngsten Zerstörungen angeschaut hat, wird gleich des Unterschieds gewahr, wenn man auch die anderen Zerstörungen sieht. In besagten Stadtbezirken gibt es bei den Trümmern eine recht dichte Staubschicht, die sich im Laufe der beachtlichen Zeitspanne angesammelt hat. Sie sind mit 1.5m hohem Unkraut bewachsen. Und außerdem, im jüdischen Quartier stehen die Bäume anstelle der zerfallenen Häuser, deren Anblick verrät, dass sie eindeutig schon seit einigen Jahren wachsen. Sie hätten kaum in der Zeit vom August 2008 bis heute gewachsen sein können. Anders ausgedrückt, zumindest der Großteil, wenn nicht der Gesamtbereich der jüdischen und armenischen Vierteln, ist eher die Konsequenz oder das Ergebnis des Krieges in den Jahren 1991-92, als es dort ebenfalls schwere Gefechte gab. Sonst macht dieser Stadtteil im Allgemeinen den Eindruck eines längst verlassenen Ortes.                

S. Buntman – Michail schreibt: „Illarionovs Worte zeigen eine deutliche pro-georgische Voreingenommenheit. Die Frage sollte wie folgt gestellt werden: Wer hat das Feuer aus Schwerwaffen eröffnet? Sie sollen doch erst zur Feuerlinie gebracht und aufgestellt werden. Das hätte kaum einen Tag in Anspruch genommen. Es war offensichtlich, dass Georgien den Krieg vorbereitete. Deshalb standen auch unsere Truppen am Tunnel und deswegen sind auch die Zivilisten auf den beiden Seiten evakuiert worden“.  

A. Illarionov – Ich würde nicht kommentieren, wer und wie befangen sei. Ich bin der Auffassung, die beste Problemlösung ist der Frieden und eben aus diesem Grund hab’ ich sowohl der georgischen als auch der süd-ossetischen Führung Friedensvorschläge gemacht. Diese Vorschläge bezogen sich darauf, was man früher hätte tun können und was man heute machen kann. Was nun die Frage anbelangt, wer mit dem Krieg begonnen hat, werde ich darüber nicht reden, denn es gibt in diesem Zusammenhang jede Menge Informationsstoff und Veröffentlichungen. Die Truppenbewegungen betreffend sind die besten Quellen in diesem Fall wahrscheinlich nicht georgische Kommunikationsmitteln, sondern gerade die russischen und ossetischen Medien. Was die Konzentration von Truppen, Waffen und Militärtechnik angeht, so haben Russland und Süd-Ossetien bereits im Mai 2004 begonnen, Streitkräfte und Kriegsaufrüstung nach Süd-Ossetien zusammenzuziehen. Ich wiederhole es noch einmal, im Mai 2004, das heißt etwas mehr als 4 Jahre vor dem Ausbruch dieser scharfen Konfliktphase. Und als Folge der Ansammlung von Truppen und Waffen wurde Süd-Ossetien am meisten militarisierte Region in der modernen Welt und hatte somit Doppel soviel an Militärpersonal pro tausend Einwohner als Nord-Korea, der absolute Weltrekordhalter bis 2004. Allein die Zahl an Militärtechnik, Panzern, Artilleriesystemen, selbstfahrenden Geschützen, Mehrfachraketenwerfersystemen „Grad“ pro tausend Einwohner in Süd-Ossetien übersteigt die von Nord-Korea um das 5 bis 7-fache. Also, die Anhäufung von Militärkräften und Waffen in Süd-Ossetien zog sich mehr als 4 Jahre hin. Offiziere der süd-ossetischen Armee wurden dazu in russischen Heeresverbänden angelernt und trainiert. In der Militärakademie von Wladikawkas wurde speziell eine süd-ossetische Fakultät eingerichtet um entsprechende Fachmänner auszubilden. Seit 2005 haben russische Offiziere im aktiven Dienst die führenden Ämter in süd-ossetischen Verteidigungs- und Sicherheitsbehörden inne und besitzen die Posten von Verteidigungs- und Innenministern, von Leitern des KGB und des Ministeriums für Krisensituationen sowie die vom Sekretär des Sicherheitsrates und s. w. u. s. f. Was die georgische Seite anlangt, natürlich, sie bereitete sich auch vor, daran besteht kein Zweifel. Sie bereitete sich jedoch, so wie es scheint, für einen anderen Krieg vor. Nach allem, was man im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzung gesehen hat, hatten Georgier keinen realen Plan zur Wiedergewinnung Süd-Ossetiens. Sie hatten vielmehr einen Mini-Plan zur Absicherung der georgischen Enklaven Khurtha und Thamarascheni. Die georgischen Truppen brachen, wie es unter anderem auch die russischen Informationsquellen berichten und im Einzelnen auch ein solcher Informant wie der russische Sondergesandter Juri Popow, am Abend des 7. (August) auf. Als er an jenem Abend aus Zchinwali losfuhr, und dort gibt es nur eine kleine Landstraße, sah er die Einheiten der georgischen Streitkräfte ihm entgegenfahren. Das geschah am Abend um 7 Uhr, kurz nach sieben des 7. August. Mit anderen Worten, Georgien hat wirklich angefangen, dorthin Einheiten zu verlegen. Gleichwohl erfolgte dies erst in der zweiten Hälfte des 7. August, was wohl etwas Unterschied an Vorbereitungsgrad demgegenüber ausmacht, was die andere Seite im Laufe der Jahre aufzuweisen hatte.                                                        

M. Gajdar – Danke Andrej Nikolajewitsch, wir haben diesen Gedanken verstanden. Ich habe eine Frage im Zusammenhang mit Frieden. Früher sagten Sie – widerlegen Sie es, wenn ich falsch liegen sollte – dass Georgien und die Ukraine der NATO beitreten sollten. Vertreten Sie diese Meinung immer noch?

A. Illarionov – Sie verbreiten in diesem Fall natürlich eine falsche Information, weil ich so was nie gesagt habe.   

M. Gajdar – Ich verstehe. Erzählen Sie mit wenigen Worten, was muss getan werden, damit der Frieden herrscht? 

S. Buntman – bei uns, in Georgien, Europa, den USA… 

A. Illarionov – Wenn man davon spricht, ob dieser oder jener Staat dieser oder jener Organisation beitreten soll, ist dies ausschließlich die Angelegenheit der Bürger dieser Staaten selbst und der Regierungen, die von der Bevölkerung, der Bürger dieser Staaten gewählt werden. Das ist ihre Sache. Wie genehm oder missliebig das uns, den russischen Bürgern und der russischen Führung auch sein mag, ist es das souveräne Recht einer jeden Nation, darüber zu entscheiden, Mitglied welcher Organisation sie sein kann, mit wem sie Freundschaft schließt oder eben nicht schließt. 

M. Gajdar – Was sollte nun gemacht werden?  

A. Illarionov – In Bezug darauf, was getan werden muss, muss ich sagen, dass im Augenblick die Situation im Kaukasus äußerst schwer zugänglich, ernsthaft zerrüttet ist und ich würde sagen, dass der Krieg, der neulich wütete, der russisch-georgische Krieg, eine regelrechte geopolitische Katastrophe ist. Diese Formulierung findet bei uns letzte Zeit Zuspruch. Ich würde sagen, dass wenn eine geopolitische Katastrophe eintrat, so geht diese geopolitische Katastrophe als Folgerichtigkeit aus dem russisch-georgischen Krieg hervor. Eine geopolitische Katastrophe für Russland.  

M. Gajdar – Und dennoch, was tun? 

A. Illarionov – Ich beantworte Ihre Frage. Das ist eine geopolitische Katastrophe, weil in mindestens mehr als zwei Jahrhunderten viele Generationen russischer Menschen und russischer Obrigkeit ein höchst wankendes geopolitisches Gleichgewicht im Südkaukasus schufen und aufrechterhielten, wo Georgien der Hauptpartner, ja der Hauptverbündete Russlands war. Und als Ergebnis zahlreicher Kampagnen, welche sich in dieser Zeit ereigneten, standen Georgien und Russland auf derselben Seite, sie waren Verbündete. Dann, innerhalb von einigen Monaten ist diese geopolitische Balance im Südkaukasus, die von den Generationen der Politiker und auf Kosten von zig tausenden, wenn nicht hunderten von tausenden von Menschen ermöglicht wurde, zunichte gemacht worden. Und diese Empfindung kommt aus verschiedenen Seiten. Man kann es einfach physisch fühlen. Es geht den Menschen zu Herzen, einzusehen, dass etwas, was über Jahrhunderte hinweg gebildet wurde, jetzt ruiniert ist, und es wiederaufzubauen wird sehr schwer fallen. Ich könnte eine andere Analogie ziehen. Die heutige Lage im Kaukasus hat mich erinnert oder erinnert mich, soweit es möglich ist, anhand von Publikationen, an die Entwicklungen auf dem Balkan zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Verhältnisse im Kaukasus heute – das ist eine in hohem Maße brisante Situation, die zu sehr ernsten Folgen führen kann. Und darum ist für alle Seiten, die in dieser Situation involviert sind und mit ihr zu tun haben, glaube ich, überaus wichtig, alles Mögliche und sogar Unmögliche dafür zu tun, damit eine weitere Steigerung der Anspannung vermieden und eine Verwicklung in sonstige Kampfhandlungen abgewendet werden kann.                              

S. Buntman – Also, was muss man tun?   

A. Illarionov – Leider kann man jetzt, wie es mir scheint, nicht allzu viel tun. Denn solche bewaffneten Konflikte, die kürzlich stattgefunden haben, mit all den Zerstörungen und menschlichen Todesopfern, können keineswegs bequem verschmerzt werden. Es war mir natürlich recht unbehaglich, als ich beim durchfahren quer durch Georgien sah, dass der beträchtliche Teil dessen, was in Georgien war, einfach vernichtet wurde gerade dann, als russische Truppen dort verweilten. Die verbrannten Buschwerke, die an der Landstraße angrenzen, Geschichten über gesprengte und zerstörte Eisenbahnbrücken, explodierte Zementfabriken, Bombenangriffe auf die Bordschomi-Wälder, Gefangennahme der Arbeiter, die eine Autobahn zwischen Tiflis und Batumi bauten. Lässt sich fragen – warum? Na ja, offenbar weil sie weiter arbeiteten dessen ungeachtet, dass dort fremde Streitkräfte standen. Derartiges Verhalten rief und ruft auch weiterhin in denjenigen Menschen eine tiefe Empörung hervor, die geschichtlich und traditionell sehr wohlgesinnt gegenüber Russland sind. Wie kann man das durchstehen? Wie kommt man aus dieser Lage wieder hinaus? Es ist außerordentlich schwer. Dafür sind vor allem natürlich die Regierungen, insbesondere die Russlands und Georgiens verantwortlich, und der erste Schritt sollte sein, ohne Zweifel, dass der angriffslustigen und kränkenden Rhetorik in diesem Fall von Seiten Russlands, wenn die Rede von der russischen Regierung ist, gegenüber der georgischen Führung Einhalt gebieten wird. Wie sie auch sein mag, sie ist vom georgischen Volk gewählt. Und dieser Art von Rhetorik muss unterlassen werden. Außerdem muss man doch die Realität akzeptieren, die durch viele Äußerungen nicht eingestanden wird. Ferner bedarf es der Umsetzung des 6-Punkte-Plans von Sarkozy, der bisher noch nicht erfüllt ist, denn einer der wichtigsten Punkte des Plans sieht die Rückkehr georgischer Streitkräfte in ihre Kasernen und die Rückzug russischer Truppen zum Standort ihrer Dislokation vor dem 7. August 2008 vor. Nicht nur sind die russischen Heeresverbände nicht einmal zu diesen Standorten verlegt worden, sondern im Gegenteil, sie okkupieren zurzeit beispielsweise das Achalgori-Gebiet in Süd-Ossetien auch noch. Das ist eine große süd-östliche Gegend Süd-Ossetiens, in der sich keine einzige ossetische Siedlung findet, in der noch nie Osseten gelebt haben, dort gibt es keine Osseten. Diese Gegend war niemals unter der Kontrolle der Kokoyti-Administration und dort gibt es niemanden unter der Bevölkerung, der einen russischen Pass hätte. Darüber hinaus war sie mit der Außenwelt noch nie durch einen geeigneten Fahrweg außer einem Bergweg verbunden. Um das Achalgori-Gebiet an sich zu reißen, mussten die russischen Truppen zunächst Süd-Ossetien verlassen, sich bis Gori voranrücken, über die Schnellstraße in Richtung Süden ziehen und dann nach Norden schwenken um anschließend Achalgori zu besetzen. Die neueste Stellungnahme des russischen Außenministers, Herrn Lawrow, deutete an, dass Russland von jenem Ort nie fortgehen werde, dass russische Truppen dort blieben und dass diese Entscheidung und Anweisung dem Syrozy-Plan vollkommen entgegenkomme. (Nun abgesehen davon) (ausgenommen), dass dies dem Plan nicht nachkommt und dass die russischen Truppen dort vor dem 7. August wirklich nicht waren, im Gegensatz zu manchen anderen Regionen Süd-Ossetiens, wenn das aber stimmt, dann räumt eigentlich die russische Obrigkeit durch die Aussagen ihrer Staatsführungsspitze ein, – in diesem Fall ist es keine bloße Beobachtung, keine bloße Meldung des georgischen Geheimdienstes, nicht einmal Berichte russischer Offiziere und Soldaten in den Medien, sondern es ist ein offizielles Geständnis der russischen Führung – dass sich russische Streitkräfte vor dem 7. (August) in Süd-Ossetien aufhielten. Und somit wird die Frage darüber, wer als erster angefangen hat und von welcher Seite die Gewalt erfolgte, von russischen Staatsmännern offiziell anerkannt.                                        

M. Gajdar – Sagen Sie, was sollen nun die Amerikaner tun? Sie leben in Amerika – sie werden sicherlich danach gefragt, was zu tun. Was erwidern sie denn darauf? 

A. Illarionov – Mascha, Sie wissen wohl, dass ich in Russland lebe und in den USA arbeite, während der Dienstreise. Das wissen Sie, insofern denke ich, sie sollten die Radiohörer nicht in die Irre führen.   

S. Buntman – Dann was sollen die Menschen machen, die dort arbeiten und leben, wo Sie arbeiten? Aber wirklich, was tun, Andrej Nikolajewitsch? 

A. Illarionov – Wissen Sie, das sollten wahrscheinlich Amerikaner entscheiden. Ich bin kein Ratgeber für die amerikanischen Behörden. Sie haben genug eigene Berater. Ich sehe es für nötig an, soweit es im Bereich des Möglichen liegt, unserer russischen Gesellschaft mit Rat und Tat beizustehen. Ich finde, wir haben einen nicht gerade großen Erfolg in Sachen Ratschläge für die russischen Behörden, weil sie irgendwie ihre Unfähigkeit sichtbar machen, offenes Ohr für die Anregungen zu haben, sogar von den Menschen, die im Staatsdienst tätig sind, noch weniger aber von den Menschen, welche die russische Gesellschaft repräsentieren, gleich wie verschieden deren Seiten auch sein mögen. Aber für die russische Gesellschaft, in diesem Fall, sind wir als Gesellschaft mit einem Problem konfrontiert, wenn die Staatsführung die Schritte macht, die nicht nur der Führung selber einen unbekehrbaren Schaden zufügt, sondern auch unserer Gesellschaft, unserem Staat. Und wir als Gesellschaft müssen Wege und Mitteln finden, damit in diesem Fall wir selber uns und unseren Lieben und  Verwandten und der nächsten Generation aus den Konsequenzen derjenigen katastrophalen Entscheidungen herauszuhelfen, die sich die russischen Behörden anmaßen. Deshalb, eigens im Rahmen der Nationalversammlung, die verschiedene Seiten der politischen Bandbreite Russlands verkörpert, hatten wir eine Anhörung bezüglich des russisch-georgischen Krieges, wo gemischte Ansichten zum Ausdruck gebracht wurden, unter anderem gab es auch regierungsfreundliche und sogar noch aggressivere Meinungen, aber auch ganz andere Beschlüsse. Nichtsdestotrotz, eine gemeinsame Willenserklärung, die im Nachhinein verabschiedet wurde, bestand darin, dass unabhängig davon, welche Ziele die Parteien verfolgten und was geschah, wichtig sei, grundlegende Prinzipien einer zivilisierten Gesellschaft zu wahren und Prozeduren der nationalen Gesetzgebung aufrechtzuerhalten. Dadurch, dass die russischen Streitkräfte außerhalb der Grenzen Russlands eingesetzt wurden, wurde die Konstitution der Russischen Föderation, die entsprechende Gesetzgebung und die UN-Satzung verletzt; übertreten wurde sogar die Konzeption der außenpolitischen Sicherheit, die einen Monat vor Beginn des russisch-georgischen Krieges angenommen worden war.   

S. Buntman – In Ordnung, Andrej Nikolajewitsch, die Zeit ist bereits um… 

A. Illarionov – Es ist unheimlich wichtig, denn welche Krisen sich auch ereignen mögen, was in unseren heutigen und künftigen Lebenstagen auch eintreten mag, ist es unerlässlich,  fundamentale Rechtsprinzipien zu pflegen, wie im Staat Entscheidungen getroffen werden. Zumal die Entscheidungen eines solchen Ranges.         

S. Buntman – Gut, Andrej Nikolajewitsch, vielen Dank. Wir werden darüber noch reden.    

M. Gajdar – Danke. 

S. Buntman – Das war Andrej Illarionow. 

QuelleRadio Echo Moskvy, auf Russisch, 24. Oktober 2008        

Gesendet von Marika Lapauri-Burk (www.lile.de)

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