Saturday, August 09, 2008

OPEN LETTER: 08-08-08

Seit ein paar Jahren bin ich mit dem Kaukasus verbunden. Angefangen hat es in meiner Jugend. Ich lebte in Ostdeutschland, weltweit bekannt geworden durch den Fall der Mauer. Damals träumte ich beim Lesen und wenn ich an das alpine Bergsteigen fern der Heimat dachte, von der Hohen Tatra, dann vom Kaukasus, dann dachte ich an den Pamir oder an das Altai-Gebirge. Der Everest lag für mich weit weg im Westen. Ich konnte und durfte nicht von dem Höchsten träumen. Ich wollte trotzdem auf einem eisigen und schönen Gipfel stehen und die klare Luft genießen. Beim Abstieg sollte ruhig der Wind an mir zerren, aber ich wollte den Gipfelsieg nach Hause bringen. Es sollte nur eine Geschichte sein, die ich gern weiter erzählen würde.

Älter geworden, nach dem Fall der Mauer in Ostdeutschland, wurde der "Fall der kruden Mauer-Architektur" ein Freiheits-Symbol in Retrospektiven - vor allem im Fernsehen. Seit dem gibt es für mich den klaren Ausblick oder geruhsamen Rückblick nicht mehr. Alle sprangen schon damals nur in den Staub. Die Mauer in Berlin wurde nicht wirklich gestürmt, denn die Leute saßen plötzlich einfach auf ihr. Sie hatten sie mit Hilfe von Räuberleitern erklommen und johlten schlecht gekleidet in die Kameras. Keiner hatte etwas dagegen. Es war unerfindlich. Erst dann bockten sie über und warfen sich in die offenen Arme des Westens zu ebener Erde und erwarteten das Paradies auf Erden. Sie waren nicht wirklich willkommen! Sie hatten ja auch nur ein paar Scheine in der Hand!

Es war nur eine Himmelsrichtung, der sie sich zuwendeten, wie es sich im Laufe der Zeit, andere sprachen damals vom Ende der Geschichte, herausstellte. Mittlerweile werden anderenorts aber wieder Mauern errichtet! Im Osten: Wir wollen es nicht sehen, denn wir leben im Westen! Und die mexikanische Grenzmauer ist hier kaum ein Begriff! Zu weit westlich von hier ... Was die Technik uns bringt, haben wir noch nicht wirklich erfasst. Jedenfalls verschwinden mehr und mehr die Himmelsrichtungen und auch unser Horizont. Wir wollen zum Mars fliegen, warum, dass weiß der liebe Teufel. Unsere Realität wird virtuell.

Die Chinesen haben es mit ihrer Mauer dagegen vor beinah einer Ewigkeit zum Weltwunder gebracht, was aber niemanden mehr wirklich interessiert! Noch ist sie nicht vergessen, was wohl daran liegt, dass sie unverstellbar weitläufig ist, man Eintritt bezahlt und zum Postkartenfetisch herhalten muss. Für uns liegt dieses gigantische Bauwerk aber nur im Osten! China gilt als ein Wunderland, dass uns irgendwie keine Freude bringen will. Asien fördert mit ihren vielen Menschen unsere Komplexe zu Tage! Es ist eben nicht mehr exotisch für uns! Es ist riesig. Irgendwo wächst etwas über uns hinaus. Wir kennen das Gewächs nur nicht, dass über unsere Köpfe hinaus treibt. Wir haben Angst vor der Wucherung.

Vor ein paar Stunden wurde dann in China mit einer Massenparade in einem gigantischen Stadium, gebaut von einem der zehn besten Architekten der Welt, die zeitgenössischen Olympischen Spiele eröffnet und Erinnerungen geweckt. Im Schatten gigantischer Feuerwerke, vielleicht eines der zehn größten Spiele überhaupt, wurde dann beinahe zwangsläufig auf allen Kanälen zeitgleich mit kleinen technischen Videokameras ein kleiner heftiger Krieg in Südossetien dokumentiert, den man noch, in zurückhaltender Weise, als einen eingefrorenen Konflikt bezeichnen wollte, der am Rande eines gewaltsamen Ausbruchs steht.

Klar ist mittlerweile, dass es Tote gab, wobei die Zahl derer, die ihr Leben ließen, medial vage veröffentlicht oder gar ungenannt blieb. Flugzeuge sind abgeschossen wurden, Panzer rollen, Gewehre schießen, Männer werfen sich in den Staub, Kinder werden evakuiert, Frauen sitzen in dunklen Kellern und Politiker geifern wie alte Weiber, wenn man ihnen Glauben schenken würde, und die Waffen selbst - die kennen wir nicht. Aber das kennen wir von der ohnmächtigen Berichterstattung des letzten Balkankrieges und auch aus dem Irak. Im schwarzen Afrika streckten lange Messer zahllose Nachbarn nieder, was auch unsere Vorstellungen übertraf, denn scharfe Klingen sind uns zwar wohl vertraut, doch das Abschneiden ist uns unheimlich. Schon Joseph Conrad berichtete von einzelnen Verwandlungen unserer Spezies ein paar Jahrzehnte zuvor in seinen Stories. Ein Serbe war in jüngster Zeit erst Arzt, dann Therapeut, dann Dichter, dann Redner und Verhetzer, dann Oberoffizier, Massenmörder und dann ein heiliger Wünschelrutengänger. Mit Mimikry hat das sicher nichts zu tun!

Der Überfall im Kaukasus während der Olympic Games geschah in einem unbekannten Randgebiet, wo Menschen leben, die klein, arm, eingezwängt, vielsprachig, uralt, anders, vor Kraft strotzend, selbstbewußt, stolz, ungestüm und orientierungslos in unserer großen weiten Welt sind. Es ist egal wer angefangen hat, denn das ist eine Kinderfrage, die dem Problem aus dem Weg gehen will! Die Menschen dort rieben sich auf in einem steinernen Meer, zwischen Boliden, in der Umgebung von Halbwüsten, inmitten unterschiedlicher Religionen, eingezwängt von Bergmassiven und Imperien und in ihrer Unkenntnis von der großen wirklichen Welt, obwohl sie normalerweise mit dem vielsprachigen Vielvölkergemisch urtümlich immer ganz gut zurecht kamen.

Dagegen träumten Sie oft in ihrem üppigen und kurzen Leben von dem Kind, der Liebe, der Leidenschaft, der Wollust, der Großzügigkeit, den Tod und der Unsterblichkeit. Sie liebten und kämpften für ihre eigene kleine Ewigkeit und das ihrer weit verzweigten Verwandten. Und trotzig nehmen sie deswegen alles zum Anlass, dem Übermaß und der Übermacht zu trotzen, die dem entgegen stehen: Russland, das im Norden ein enormes vernichtendes Potential haben kann - auch für ihr eigenes Volk; Europa, das sich immer noch in einer intelligenten Zurückhaltung und Vornehmheit übt, wenn es gleichzeitig alte Werte und moderne Interessen auf einmal bekunden will; das Heiland Amerika, dass wie üblicherweise wirkungsvoll und abschreckend einschreiten soll. Gegen diese haben die kleinlauten Helden der Berge nun ihr halsbrecherisches und ungerechtes Abenteuer in Angriff genommen - wie Halbstarke, die ihren Vätern etwas beweisen wollen, von denen sie nicht wirklich geliebt wurden, weil diese lieber in dunklen Spelunken für einen Vorteil oder gegen ihre gekränkte Seele zocken, statt mit den Halbwüchsigen eine beschwerliche Wanderung durch Täler auf die lichten Höhen zu unternehmen, dorthin wo Luft für alle da ist – und nicht noch höher hinauf in die kopfschmerzenden Todeszonen, wo man nur mit Hightech und Atemmasken zurecht kommt, und irgendwann trotzdem erstickt, verhungert, verdurstet, erfriert und einsam bleibt - mit der armseligen Zocke auf Tasche.

Ralph Hälbig

2 comments:

andreas.schroeder.net said...

Hallo,
vielen Dank für diesen nichtsagenend, aber doch voll mit Gymnasiastenromatik angefüllten Bericht.

Marta Salazar said...

danke Ralph!

ein sehr bewegender Brief!

mich hat der Brief tief beeindruckt...