(diepresse.com) Von einer optimal funktionierenden Demokratie mit eingespielten,
fairen Spielregeln ist die Transkaukasus-Republik noch entfernt.
Nicht erst seit Sowjettagen gelten die Georgier als Experten für
große Theatralik, und sie tragen, so will es das Klischee, dabei
bisweilen sehr dick auf. Viele der Aussagen, wechselseitigen
Drohgebärden und Vorfälle des georgischen Parlamentswahlkampfes lassen
sich gerade vor diesem Hintergrund einer theatralischen Tradition
verstehen.
Denn obwohl manchmal der Eindruck erweckt wird, dass es um Leben oder
Tod ginge, wollen der seit 2004 amtierende Präsident Michail
Saakaschwili und sein schärfster Herausforderer, der Milliardär Bidsina
Iwanischwili, einstweilen, so ist zu hoffen, vor allem eines: dass ihre
Parteien, die regierende „Vereinte Nationale Bewegung“ (UNM) und
Iwanischwilis „Georgischer Traum“, am heutigen 1.Oktober möglichst viele
Stimmen gewinnen.
Der Oppositionspolitiker, der in Russland zum Oligarchen wurde und
auch in Frankreich wohnte, kann selbst bei den Wahlen nicht teilnehmen:
Nach Vorwürfen, er habe einen französischen Reisepass verschwiegen,
entzogen ihm die Behörden im April seine georgische Staatszugehörigkeit.
Vor einer Machtverschiebung
Allenfalls kommt den heutigen Wahlen eine besondere Bedeutung zu:
2013 läuft Saakaschwilis zweite und letzte Amtszeit als Präsident aus.
Mit einer 2010 beschlossenen Verfassungsreform wird sich die Macht
anschließend deutlich in Richtung Parlament und Premierminister
verschieben. Und das nächste Parlament soll auch, so wollte es
Saakaschwili, aus dem stalinistischen Bau im Tifliser Zentrum in einen
schicken Glasbau in die westgeorgische Provinzstadt Kutaisi übersiedeln.
Widersacher Iwanischwili, kündigte an, dies bei einem Sieg zu
verhindern.
Aber nicht nur diese Debatte über das Parlament polarisiert.
Insgesamt lagen die Nerven der Wahlkämpfer in den vergangenen Monaten
zunehmend blank. Denn nur so es ist etwa zu erklären, dass – wie die
unabhängige NGO Transparency International Georgia dokumentierte –
manche Anhänger der Partei Saakaschwilis auf unlautere Weise
Möglichkeiten ihrer Amtsfunktion benützt haben, um Druck auf
Oppositionelle auszuüben. Oder dass offensichtlich das georgische
Innenministerium im April zwei Mitarbeiter nach Zürich schickte, um das
vertrauliche Gespräch eines Oppositionspolitikers und eines im Exil
lebenden Journalisten mitzuschneiden. Außenpolitisch war dies peinlich,
innenpolitisch irrelevant.
Mit der Ausstrahlung von Videos, die brutale Folterszenen im
Gefängnis Gldani zeigen, landete die Opposition hingegen einen Scoop:
Tausende gingen nach den Fernsehberichten auf die Straße, die gezeigten
Missstände tangieren eines der zentralen Reformprojekte des Präsidenten.
Gemeinsam mit dem jetzigen Premier und UNM-Spitzenkandidaten Wano
Merabischwili hatte Saakaschwili gründlich mit der verbreiteten
Korruption im Sicherheitsapparat aufgeräumt. Gleichzeitig wurden
mithilfe scharfer Gesetze die traditionell äußerst einflussreichen
Verbrechersyndikate des Landes entmachtet: Selbst das Tragen des
Ehrentitels „Dieb im Gesetz“ (die ex-sowjetische Verbrecherwelt
„verleiht“ diese Verzeichnung an ihre Bosse) wurde durch einen neuen
Mafia-Paragrafen strafbar: Georgische Spitzenkriminelle haben
abgeschworen, sie haben das Land verlassen oder sitzen in Haft.
Bezeichnenderweise zeigt eines der nun veröffentlichten Videos die
Misshandlung eines Häftlings, der sich beharrlich als „Dieb im Gesetz“
bezeichnet.
Fragen wirft aber auch die Veröffentlichung des Videos auf. Der Autor
des Videos, ein ehemaliger Gefängniswärter, wirkt als aufrichtiger
„Whistleblower“ nicht wirklich überzeugend. Insbesondere das Timing
lässt die Causa wie eine Wahlkampfoperation wirken: Die Videos waren
bereits vor Monaten gedreht worden, der Wärter selbst war im Mai 2012
gekündigt worden und nach Belgien geflohen.
Kontrolle verloren
Erst vor zwei Wochen soll er dann sein heißes Material der
Fernsehstation TV9 zur Verfügung gestellt haben. Der Sender gehört
zufällig Iwanischwilis Gattin. Saakaschwilis Anhänger orteten eine
Verschwörung, die von mit der Opposition verbündeten „Dieben im Gesetz“
ausgehe. Eine Sprecherin von „Georgischer Traum“ erklärte jedoch, dass
man erst durch die Ausstrahlung selbst von den Videos erfahren habe.
Zumindest im georgischen Innenministerium hatte man aber vorweg von
der Angelegenheit Wind bekommen. Der mächtige Innenminister und die
Ministerin für Gefängnisangelegenheiten waren dann innerhalb von 24
Stunden ihre Jobs los.
Kritik an politischen Versäumnissen kommt auch von Vertrauten des
Präsidenten. „Der Fehler besteht darin, dass die Kontrolle über das
Verhalten der Gefängnismitarbeiter verloren gegangen ist. Der
sowjetische Umgang mit Häftlingen konnte nicht restlos beseitigt
werden“, erklärt Ex-Wirtschaftsminister Kacha Bendukidse; er gilt als
Autor der georgischen Wirtschaftsreformen, die das Land sichtlich
modernisiert haben.
Dringender Reformbedarf
Zahlreichen NGOs gehen die bisher eingeleiteten Schritte zur
Aufklärung der Gefängnismissbrauchsfälle nicht weit genug. Im
Rechtssystem besteht dringender Reformbedarf, vor allem, was eine
deutliche Anklagelastigkeit betrifft. Gerade Eigenheiten der
Strafprozessordnung, etwa die Möglichkeit, nach US-Vorbild vorweg Deals
mit der Anklage auszuhandeln, inspirieren womöglich zu unmenschlicher
Behandlung und zu Folter.
Gleichzeitig verdeutlicht nicht nur der Umgang mit dieser Causa wie
weit sich Georgien von seinen postsowjetischen Nachbarländern entfernt
hat. Vergleichbare politische Konsequenzen für die zuständigen Minister
wären etwa in Russland völlig undenkbar. Ebenso unvorstellbar wäre es
dort auch, wie in Georgien als Tourist bei der Passkontrolle vom
Grenzbeamten mit einer Flasche Wein im Land begrüßt zu werden.
Russland bleibt auch einer der bestimmenden Faktoren der georgischen
Politik. Es gilt als offenes Geheimnis, dass Wladimir Putin einen
Machtwechsel in Georgien begrüßen würde. Regelmäßig wird über russische
Militäroperationen spekuliert. Im August 2008 verlor Georgien durch eine
russische Intervention die nördlichen Provinzen Südossetien und
Abchasien.
Was die Parteien lernen müssen
Saakaschwili instrumentalisiert seinerseits die russische
Feindseligkeit und legitimiert damit das bisweilen sehr aggressive
Vorgehen gegen politische Gegner. Auch deshalb ist Georgien von einer
optimalen Demokratie mit eingespielten, fairen Spielregeln deutlich
entfernt. Aber das Potenzial zur Verbesserung ist da.
Wie es aussieht werden sowohl UNM als auch „Georgischer Traum“ stark
im nächsten Parlament vertreten sein. Und selbst wenn bei der Theatralik
dann ein wenig zurückgeschraubt werden muss: Beide Parteien werden
hoffentlich lernen, Kompromisse zu schließen und rhetorisch massiv
abzurüsten. Anders wird eine gedeihliche Weiterentwicklung des Landes
nicht zu garantieren sein.
E-Mails an: debatte@diepresse.com
Herwig G. Höller (geboren 1974) hat Physik und Slawistik in Graz
und in Moskau studiert. Er unterrichtet Landeskunde am Institut für
Slawistik der Grazer Uni. Außerdem ist er als Journalist und Publizist
für zahlreiche Medien tätig. Er war Mitglied der Redaktion des „Falter“
in der Steiermark, schreibt für die Österreich-Seiten der „Zeit“ und für
„Dnevnik“.
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