Friday, October 12, 2012

REPORTAGE: Die christlichen Heiden des Kaukasus. Von Tatjana Montik (derstandard.at)

(derstandard.atGeorgien ist im Westen vor allem durch seine brisante geopolitische Lage und den Konflikt mit Russland bekannt. Zu seinen landschaftlich und kulturell reizvollsten Regionen zählt Swanetien im Großen Kaukasus.

Zwei der dutzenden Wehr- und Fluchttürme in Swanetiens 
Hauptort Mestia, die mit staatlicher Hilfe renoviert wurden. Die Zahl 
ihrer Türme gab über Wohlstand und  Einfluss einer Familie Auskunft. Zur
 Zeit der Blutrache dienten sie ganzen Clans als Zufluchtsorte.
Mestia - Wer heute nach Swanetien reist, erfährt die Geschichte, die Traditionen und die legendäre Gastfreundschaft dieses kaukasischen Volkes hautnah. Dazu braucht man nur in einer der zahlreichen Gastfamilien Unterkunft zu finden. Und das Angebot ist groß und günstig: rund 25 Euro pro Person und Nacht mit Vollpension. Mestia, Swanetiens "Hauptstadt", ist derzeit eine einzige Baustelle. Es wird renoviert und gebaggert, die Zentralstraße wird neu gepflastert, die alten Häuser werden mit neuen Dächern, Fenstern und Holzbalkonen versehen.

Über die Swanen erzählt man sich in Georgien so einiges. Etwa dass sie trotz ihres christlich-orthodoxen Glaubens heimliche Heiden geblieben seien (siehe Wissen). Oder dass Frauen nie allein nach Swanetien reisen dürften, weil die swanischen Männer unberechenbar seien.

Unsere Gastfamilie ist jene von Murad und Larissa Margiani. Murad ist Architekt, gebürtiger Mestianer, während seine Frau Ukrainerin aus Sibirien ist. Nach der Heirat zog sie in die Heimat ihres Mannes, um nach swanischer Tradition ihren alten Schwiegereltern einen sorglosen Lebensabend zu sichern. "Diese gute Tradition, die Alten zu verehren und für sie zu sorgen, war mir sofort sympathisch", erzählt Larissa, "denn dann weiß man sicher, dass man selber im hohen Alter gut aufgehoben ist." Inzwischen steht Larissa selber an der Spitze einer Großfamilie, die sie mit ihren drei Söhnen reicher gemacht hat.

Die georgische Gastfreundschaft ist bekannt und berühmt. Hier in Swanetien, in der Margiani-Familie, bekommt man das Gefühl, dass die Gastgeber nur für ihren Besuch da sind. Vom Zimmerbalkon aus bietet sich ein wunderbarer Blick auf ganz Mestia, dessen zahllose Türme und auf den Kaukasus mit über 4000 Meter hohen Gipfeln.

Jede Mahlzeit wird zu einem lukullischen Fest, bei dem eine Mischung aus georgischen, russischen und ukrainischen Speisen dargeboten wird. Hausgemachter Topfen und Matsoni, georgisches Joghurt, Palatschinken, dünn wie feine Spitze, die mit hausgemachten Marmeladen serviert werden, pikant gewürztes Fleischragout mit jungen Erdäpfeln und milchsauer eingelegten Gürkchen, nach frischen Kräutern duftender Bohneneintopf, zarte Jungsaiblinge, Salatvariationen, Zwetschkensoßen, vieles mit mit dem berühmten, aromatisch-pikanten swanischen Gewürzsalz versehen.

Gastgeberin Larissa Margiani mit einigen Köstlichkeiten ihrer vielfältigen Küche.
Gastgeberin Larissa Margiani
Larissa Margiani kümmert sich um Haushalt und Landwirtschaft, betreut die Gäste. Daneben führt sie Touristengruppen durch das Hausmuseum, während ihr Mann bei der Restaurierung der zahlreichen Wehrtürme mitarbeitet. Als sie 1985 nach Swanetien kam, gab es hier weder Wasserleitung noch Kanalisation. "Gewaschen habe ich am Fluss, das Wasser holte ich vom Brunnen. Und in den wilden 90ern, als hier Banditenwillkür und Mangel an allen Waren des täglichen Bedarfs herrschte, habe ich sogar gelernt, Seife selber zu kochen", erinnert sich die gebürtige Sibirierin ukrainischer Abstammung.

Durch die Entwicklung der touristischen Infrastruktur, im Sommer wie im Winter, haben die Swanen nach und nach mehr Beschäftigung bekommen und ihren Lebensstandard verbessert, berichtet Larissa. Deshalb hat sie sich vor den Parlamentswahlen für die Vereinigte Nationale Bewegung, die Partei von Präsident Michail Saakaschwili engagiert und Unterschriften gesammelt.

Umstrittener Bauboom

"So viel wurde in letzter Zeit bei uns bewegt und gemacht. Es gibt Familien, die sich ohne die staatlichen Hilfen eine gründliche Hausrenovierung nie hätten leisten können." Damit spricht sie den von Saakaschwili im ganzen Land ausgelösten Bauboom an, der in manchen Bereichen, etwa bei teuren Repräsentativbauten, nicht unumstritten ist.

Bei der Führung durch das Museum der Margianis besichtigt man nicht nur ein typisches swanisches Haus aus dem 12. Jahrhundert mit Inventar und den familieneigen Friedhof, sondern man besteigt auch einen der berühmten über 20 Meter hohen Wehrtürme von Mestia und erfährt Details über Sitten und Alltag der Swanen.

Noch bis vor kurzem war in Swanetien die Blutrache verbreitet, die sich oft nicht nur auf eine, sondern auf zwei oder drei Generationen ausdehnte. Zwischen den Clans wurden regelrechte Rachefeldzüge ausgetragen, de nen bis zu 14 Männer auf jeder Seite zum Opfer fielen.

Und um sich vor diesen Rachezügen zu schützen, flüchtete der ganze Familienclan in einen seiner Wehrtürme, der mit Vorräten versorgt und durch unterirdische Gänge mit dem Haus und dem nahe liegenden Wald verbunden war. Manche Familien lebten bis zu einem Jahr in ihren Türmen.

Laut einer Statistik kamen etwa zwischen 1917 und 1924 in Swanetien 600 Männer durch Vendetta ums Leben. Bis heute ist die Blutrache nicht völlig verschwunden. Man praktiziere sie bloß auf eine andere Weise, indem man die gesamte Sippe aus dem Dorf verbanne, erzählt unsere Führerin. Und für einen Swanen gebe es keine schlimmere Strafe, als seine Heimat zu verlieren.

Von Reichtum und Einfluss einer swanischen Familie zeugte unter anderem die Zahl ihrer Wehrtürme. Die einzigartige Bauart der Türme, denen ein eierförmiges Fundament zugrunde liegt, erwies sich über Jahrhunderte als sicherer Schutz auch vor Naturgewalten, etwa Lawinen.

Georgiens Schatzkammer

Der Familie Margiani gehörten einmal acht Türme, von denen vier noch heute stehen, und ein eigener Friedhof. In dieser Friedhofskirche sowie in den anderen über die Berge verstreuten zahlreichen Kirchen, von denen viele mit wertvollen Fresken geschmückt sind, wurden die Schätze des Dorfes, alte Bücher und Schriften aufbewahrt.

Einiges an Kunstgegenständen kam aus ganz Georgien nach Swanetien, denn diese Region war durch ihre schwer erreichbare Lage mitten in den Bergen vor Kriegen und anderen großen Konflikten bewahrt geblieben. Der Legende nach suchten hier die Argonauten nach dem Goldenen Vlies. Swanische Künstler waren für ihre einzigartigen Gravuren auf Ikonen berühmt. Viele dieser Ikonen gibt es noch heute zu sehen, unter anderem in der reichhaltigen Sammlung des Ethnografischen Museums von Mestia, das nach zweijähriger Renovierung in diesem Herbst wiedereröffnet werden soll.

Viele alte Kirchen liegen am Weg zum Dorf Uschguli, 40 Kilometer von Mestia entfernt. Uschguli, das wie andere alte Ortschaften zum Unesco-Weltkulturerbe gehört, ist das höchstgelegene Dorf Europas und das zweithöchste der Welt. (Tatjana Montik, DER STANDARD, 2.10.2012)

Wissen: "Dünne Wand" zwischen den Welten

Swanetien ist eine historische Region Georgiens im Großen Kaukasus. Es schließt im Westen an die abtrünnige Region Abchasien an, die von Russland (aber nicht international) als unabhängiger Staat anerkannt wird, ebenso wie Südossetien seit dem georgisch-russischen Krieg im August 2008.

Die Teilregionen Oberswanetien (Georgisch: Semo Swaneti) und Niederswanetien (Kwemo Swaneti) werden durch das Swanische Gebirge getrennt. In Oberswanetien leben heute etwa 45.000 Menschen. Seine Bergdörfer gehören zum Weltkulturerbe der Unesco. Hauptort der gesamten Region ist Mestia.

Die Swanen werden sowohl von den Griechen als auch von den Römern erwähnt. Das Für-stentum Swanetien gliederte sich etwa im 12. Jahrhundert dem georgischen Königreich an.

Für gläubige Swanen existiert zwischen Diesseits und Jenseits nur eine "dünne Wand", sodass die Verstorbenen einen wichtigen Teil ihres kulturellen und religiösen Lebens darstellen. Sie glauben, dass ihre verstorbenen Angehörigen sich um das Seelenheil der Lebenden kümmern. Zum Dank werden beim Lipanali-Fest (18. Jänner) die Seelen der Verstorbenen bis zum nächsten Morgen in den Häusern ihrer lebenden Angehörigen bewirtet.

Gottesdienste werden außen an der Kirche abgehalten, wo auch weltliche Persönlichkeiten wie Könige abgebildet sind. Das Kircheninnere ist den Seelen der Verstorbenen vorbehalten. (red)

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