(facebook.com) Der Wahlkampf in Georgien nähert sich seinem Ende, der
Wahltag steht vor der Tür. Furcht und Hoffnung, Agonie und neuer
Aufbruch prägten die Stimmungslage der letzten Wochen. Die Vertreter der
Regierung präsentierten ihre sattsam bekannten Phrasen, die vor dem
Hintergrund furchtbarer Bilder aus den georgischen Gefängnissen nur noch
hohler wirkten. Keimhaft zeigten sich aber auch die Ansätze einer
neuen Perspektive. Das Alte und das Neue sind, wie immer in der
Geschichte, bis zur Unkenntlichkeit ineinander verschlungen. Produktive,
zukunftsweisende Verbindungen zeichnen sich erst konturhaft ab. Das
galt und das gilt für beide großen politischen Gruppierungen, die sich
zur Wahl stellen. Der Enthusiasmus, der in der Rosenrevolution 2003 die
tieferen Aspirationen des georgischen Volkes mit einem neuen politischen
Projekt verband, sucht erneut nach seinem Ausdruck. Die heute
herrschenden Apologeten des Thermidors möchten uns weißmachen, dass sich
Georgien fraglos in den modernen Zivilisationsprozess eingegliedert hat
und die gegenwärtige Krise nur ein vorübergehendes Adaptionsproblem
sei. Die Opposition dagegen artikuliert vorerst vor allem die
fundamentale Entfremdung großer Teile der Bevölkerung, die nach neuen
politischen Wegen sucht. Im Regierungslager zeichnen sich erste
Zersetzungserscheinungen ab, aber auch die Opposition ist bislang noch
zu heterogen in ihren Zielsetzungen, um eine neue Prospektive zu
begründen. Mit zwei grundlegenden Tendenzen ist aber in Zukunft sicher
zu rechnen: Zum einen hat sich das Projekt der Regierung erschöpft und
zum anderen findet der Promotor der neuen Opposition in immer höherem
Maße seinen eigenen Stil und seine eigene Sprache. Bislang ist es nur
ein Name, der aber bereits in den großen Metropolen Westeuropas und der
USA genannt wird, Bidsina Iwanischwili. Mehr und mehr verbindet er sich
nun mit den vitalen Triebkräften des georgischen Volkes, wie sie sich am
29. September auf dem Freiheitsplatz in hundertausendfacher
Gemeinsamkeit manifestiert haben. Es dieser Gemeinsinn der Georgier, der
sein Projekt für das 21. Jahrhundert sucht und darauf hofft, dass
Bidsina Iwanischwili es zu artikulieren weiß. Es ist vielleicht kein
Zufall, dass ein Mann der Wirtschaft, ein hervorragender Organisator und
Selfmademan, diese Prospektive formulieren muss. „Die
Wirtschaft ist unser Schicksal“, dieser oftmals missverstanden Satz des
deutschen Industriellen, Politikers und Philosophen Walther Rathenau,
gilt mehr denn je. Georgien wird sich allerdings nur dann in den
modernen Zivilisationsprozess eingliedern, wenn es dieses Schicksal aus
seinen eigenen Traditionen heraus anzunehmen und zu gestalten vermag.
Der britische Historiker Arnold Toynbee hatte 1949 in seinem Buch
„Kultur am Scheideweg“ auf die „aufsehenerregende Ungleichheit zwischen
den menschlichen Errungenschaften auf dem außermenschlichen und denen
auf dem seelischen Gebiet“ hingewiesen und für die Wohlfahrt des
Menschen die Bedeutung der psychischen Dimension der zivilisatorischen
vorangestellt. Mit dieser Diagnose des modernen Zivilisations- und
Wirtschaftslebens stand er nicht alleine. Auch georgische Psychologen
und Philosophen haben sich dieser Fragen immer wieder angenommen. Dmitri
Uznadze (1886-1950) hat sein ganzes Lebenswerk der engen Verbindung von
pädagogischer und psychologischer Anthropologie gewidmet, um so im
Rahmen der nationalen Kulturpolitik Georgien einen authentischen und
eigenständigen Platz in der modernen Zivilisationsentwicklung zu
verschaffen. Es ist umso erstaunlicher, mit welcher Ignoranz ein Teil
der georgischen Intellektuellen und Meinungsführer diese geistige
Ressource behandelt. Neben vielen anderen Faktoren ist dafür vor allem
die einseitig literarische und ästhetische Wahrnehmung der Wirklichkeit,
wie sie in der georgischen Intelligentsija immer noch gepflegt wird,
verantwortlich. Diese Wissensform dient einer verfehlten Distinktion,
die den Zugang zur geistigen Elite auf unzeitgemäße Weise reguliert. Das
ist nicht der „Denkstil der modernen Arbeitsgesellschaft“ (Helmuth
Plessner), derer die georgische Gesellschaft so dringend bedarf. Die
Entwicklung und Humanisierung der modernen Gesellschaft kann nicht durch
intellektuellen Snobismus, esoterisches Literatentum und
bildungsbürgerliche Arroganz zustande kommen. Eine solche provinzielle
Haltung befördert den Zynismus der gegenwärtig herrschenden Kreise. Es
handelt sich um eine Mentalität, die nicht nur in Georgien einen
substantiellen Beitrag der humanistischen Bildungskultur zur modernen
Zivilisationsentwicklung verhindert. Bidsina Iwanischwili hat vor etwas
weniger als einem Jahr in einem Fernsehinterview eine objektive Ethik
angemahnt, die sich weniger auf ein Sollen als vielmehr auf ein Können
bezieht. Ansätze dazu finden wir bereits bei Aristoteles, bei Spinoza,
bei den französischen Moralisten, bei Nietzsche und eben auch bei
Freud, den Iwanischwili besonders hervorhob. Als Unternehmer bevorzugt
er eine Perspektive, die vor allem auf Fähigkeiten und nicht allein auf
gute Vorsätze schaut. Dass eine solche Perspektive im Übergang von einer
betriebswirtschaftlichen Auswahl von Menschen zu caritativen Projekten
und erst recht im Übergang zu einem politischen Projekt erweitert werden
muss und neue Fragen aufwirft, hat er mehrfach durchaus selbstkritisch
betont. Eine „produktive Orientierung“ (Erich Fromm) folgt im Bereich
der Kultur und der Politik nicht der gleichen Logik wie in der Sphäre
marktkonformer Bedarfsdeckung. Dennoch bleibt Iwanischwilis
grundsätzliche Perspektive völlig richtig und der arrogante Dünkel, mit
dem diese Aussagen teilweise in der georgischen Öffentlichkeit bedacht
wurden, unangebracht. Für eine Kulturpolitik, die Georgiens authentische
Kraftquellen in den Zivilisationsprozess einspeisen will, ist die
Erarbeitung einer anthropologischen Grundlage erforderlich, die diese
Gedanken aufnimmt.
Bidsina Iwanischwili hat in dem Interview auf die Eigenliebe als
gleichsam natürliches Fundament der Ethik verwiesen. Die Lust das Gute
zu tun, der moralische Instinkt, wird in den allermeisten Morallehren,
auch in der von Kant, als scheinbar heteronomes Moment für ethisch
irrelevant erklärt. „Gern dien ich den Freunden, doch tu ich es leider
mit Neigung, und so wurmt es mich oft, dass ich nicht tugendhaft bin.“
So hatte Schiller diese Auffassung Kants ironisch kommentiert. Die
Einheit von Natur und Geist im authentischen Ausdruck, die der jüdische
Religionsphilosoph Martin Buber in den Mittelpunkt seiner Anthropologie
stellte, bleibt methodologisch und politisch die Aufgabe unserer Epoche.
Sie kulminiert in der Aufgabe, unser Urteilsvermögen, nach Hannah
Arendt die Basis des Politischen, zu entwickeln. Das geschieht nicht,
indem wir den Eigennutz des jeweils anderen beklagen. Unser
Urteilsvermögen muss sich vielmehr als Wahrnehmung des leiblichen
Ausdrucks in der Zeit und im Raum ausbilden. In diesem kommunikativen
Prozess bestätigen wir uns gegenseitig unsere personale Integrität. Wir
bilden dabei in einem kulturellen Raum historisch und biographisch ein
System der Maßverhältnisse zueinander aus, das Iwanischwili am Beispiel
der Grenzziehungen in den georgischen Dörfern beschreibt. Diese
unbewusste Taxonomie von Nähe und Distanz ist die Grundlage jeder
Gemeinschaft. Sie liegt der sozialen Ökologie der
Kommunikationsverhältnisse zugrunde. Insofern ist Tschorwila, das
Heimatdorf Bidsina Iwanischwilis, der prototypische Ausdruck eines
anthropologische Mikrokosmos, den es politisch mit einer
globalgeschichtlichen Prospektive zu verbinden gilt. Dieses Wissen, das
in unsere Alltagserfahrungen eingebettet ist, wird im Deutschen als
„gesunder Menschenverstand“ bezeichnet. Dieses „implizite Wissen“
(Michael Polanyi), diese vorbegriffliche Einsicht in bestimmte
elementare Zusammenhänge enthält zweifellos ein konservatives Moment,
das sich von den Spezialkenntnissen der Fachwissenschaften und der
kritischen Verstandestätigkeit durch eine gewisse natürliche
Selbstverständlichkeit unterscheidet. Das Urteilsvermögen, das uns
diesen Bereich erschließt, ist der „Sensus Communis“. Dieser
Wissensbereich zeichnet sich als herrschende gesellschaftliche Ansicht
durch eine starke Allgemeinheit und einen bestimmten Schematismus der
Wahrnehmungen aus. Er kann als solcher die sich wandelnde, vielfältige
und reiche Wirklichkeit immer nur partiell erfassen. Dieses Vermögen
lässt sich andererseits aber auch als unerschöpfliches praktisches
Wissen beschreiben. Schematismus und Komplexität sind im Sensus Communis
auf eine sehr vielschichtige Weise miteinander verknüpft.
Der deutsche Psychiater Wolfgang Blankenburg (1928-2002) hat am
Beispiel der „symptomarmen Schizophrenien“ den pathologischen
Zusammenbruch der Verknüpfungsregel beschrieben, die diese natürlichen
Selbstverständlichkeit verbürgt. In den Krankengeschichten, die er dabei
ausgewertet hat, wurde immer wieder ein furchtbarer Zustand
beschrieben, der darin bestand, dass das Selbstverständliche befremdete,
dass eine elementare Regel oder Grundlage fehlte, die eine bestimmte
Identität der Person garantierte. Das sind keine depressiven
Verstimmungen, keine Entfremdungszustände, die ja immerhin etwas Eigenes
voraussetzen, von dem wir uns entfremden können. Es fehlt vielmehr der
bereits von Aristoteles beschriebene gemeinsame Sinn der fünf Sinne, die
elementare Grundvoraussetzung menschlicher Personalität. Ohne diese
Fragen hier ausführlich erörtern zu können, möchte ich darauf hinweisen,
dass diese Synästhesie unserer sensomotorischen Abläufe heute eine
kultur- und kommunikationspolitische Aufgabe ersten Ranges ist. Die
beschriebene Selbstverständlichkeit setzt eine sinnvolle
Vereinheitlichung der verschiedenen Sinnesempfindungen im einzelnen
Menschen, ein synthetisches ganzheitliches Wahrnehmungsvermögen voraus.
Deutsche Psychologen und Philosophen wie Victor von Weizsäcker, Helmuth
Plessner und Ernst Cassirer haben diese Vorgänge immer wieder
beschrieben und analysiert. Sie liegen auch unseren
Kommunikationsprozessen zugrunde. Die vertrauensbildende und Identität
vermittelnde Synästhesie der Wahrnehmungsvorgänge stellt sich heute aber
nicht mehr gleichsam naturwüchsig her. Der „Atemraum der großen Treue“
(Martin Buber), diese dialogische Sphäre, in der sich das authentische
Sein als Einheit von Natur und Kultur konstituiert, setzt eine
Gemeinschaft bzw. einen Ort voraus, der heute nicht mehr allein
genealogisch als Familie oder Ethnos vorausgesetzt werden kann, sondern
der sich unserer politischen Tätigkeit verdankt. Es ist insofern kein
Zufall, dass der Grundbestand an politischer Philosophie bereits in der
Antike, d.h. im Übergang von den alten Gentes zur Polis, entstand. Im
Auseinandertreten von Gemeinschaft und Gesellschaft, die seither unsere
modernen Sozialverhältnisse in noch viel höherem Maße kennzeichnet, ist
die Arbeit am Sensus Communis zu einer dauerhaften politischen Aufgabe
geworden. Es handelt sich im Grunde um das alte politische und
pädagogische Projekt, wie es Schiller in seinen Briefen „Über die
ästhetischen Erziehung des Menschen“ (1795) und in seiner Rede „Was
heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ (1789)
skizzierte. Der „ästhetische Staat“ ist das Projekt einer heute
möglichen kommunikativen Verständigung unter den Bedingungen der
Globalgeschichte. Sinnlichkeit und Sinn, Gefühl und Form können nur in
einer dialogischen und spielerischen, d.h. künstlerischen Weise vereint
werden.
Diese kommunikativen und kreativen Akte können aber in unserer Epoche
nicht mehr auf den literarisch-künstlerischen Bereich begrenzt werden.
Sie sind vor allem in der Sphäre der Ökonomie und der Technologie zu
realisieren. Die zentrale ökonomische Sphäre Georgiens ist die
Landwirtschaft. Erst wenn die georgischen Intellektuellen ihren
Snobismus aufgeben und das Dorf als zentrale kulturelle
Produktionsstätte wiederentdecken, wird es gelingen, den modernen
Zivilisationsprozess auf ein tragfähiges Fundament zu stellen. Es geht
nicht um ein naives Neo-Narodnikitum, wenngleich so mancher moderne
georgische Intellektuelle das geistig-moralische Niveau eines Wladimir
Korolenko oder eines Niko Nikoladse bei weitem nicht erreicht. Es geht
weit prosaischer vielmehr darum, die große Schlüsselqualifikation des
sechsten Kondratieffzyklus (Leo A. Nefiedow), die Kooperationsfähigkeit,
zu pflegen. Auf der Basis der im vorangegangenen Zyklus geschaffenen
computergestützten Kommunikationstechnologie kann so die enorme und
einzigartige Biodiversität, der wirkliche gegenständliche Reichtum
Georgiens, mit der noch vorhandenen Gemeinschaftskultur und den
Kenntnissen der Volks- und Klostermedizin verbunden werden. Die Fragen
der Kultur und des Menschseins werden im 21. Jahrhundert erneut
entscheidende Bedeutung erlangen. Fragen der physischen und seelischen
Gesundheit, der Humanontogenetik und des Zusammenlebens werden bereits
die nähere Zukunft bestimmen. Anstatt in Georgien eine kulissenhafte
Moderne von gestern aufzubauen, wäre es produktiver, sich an die Spitze
eines neuen innovatorischen Zyklus zu stellen und damit eine kreative
Verbindung von Kulturbewegung und Zivilsationsprozess in Gang zu setzen.
Anstatt den Abstraktionen aus der Schule eines Adam Smith oder eines
Karl Marx nachzujagen, wäre es vielversprechender, Alexander W.
Tschajanows (1888- 1937/38/39) „Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft“
zu beherzigen und sie in Verbindung mit den Ideen des genialen
Konjunkturforschers Nikolai Kondratieff (1892-1938) auf die georgischen
Realitäten zu beziehen. Die Einbeziehung von Friedrich Lists (1789-1846)
„Nationalem System der politischen Ökonomie“, indem die kulturellen
Besonderheiten der Völker und Regionen Berücksichtigung fanden und
seine Fortführungen bei Edgar Salin (1892-1974) u.a., wäre allemal
fruchtbarer als die zurzeit vorherrschende unkritische Apologie des
Neoliberalismus. Der Aufbau freiheitlicher Basisgemeinschaften, den der
deutsche Kultursoziologe Alfred Weber (1868-1958) nach der deutschen
Katastrophe anregte, die Forderung nach Fundamentaldemokratisierung und
integraler Lokalentwicklung im Sinne der Entwicklungssoziologie eines
Richard F. Behrend (1908-1972) entsprechen wohl weit eher den
georgischen Gegebenheiten als die abstrakten Modernisierungkonzeptionen
der heute herrschenden Gruppierung. „Gemeinde“ als Forschungsfeld, dem
in den deutschen aber auch den US-amerikanischen Sozialwissenschaften
einmal eine so große Bedeutung zukam, scheint in Georgien kaum
nennenswerter Anstrengungen für wert befunden zu werden. Hier liegen
aber die Aufgaben einer Kulturpolitik, die den Herausforderungen des 21.
Jahrhunderts gerecht wird und der sich jede wirklich zukünftige Regierung in Georgien annehmen müssten.
Wir brauchen heute eine prospektive Anthropologie im Sinne Gaston
Bergers (1896-1960), eine Wissenschaft des Werdens, um die Sehnsüchte
des georgischen Volkes, wie sie Nikoloz Barataschwili in seinem Gedicht
„Gedanken am Ufer der Kura“ zum Ausdruck brachte, mit einem Ziel zu
verbinden. Das „leere Gefäß“ kann sich nur füllen, wenn wir der Wahrheit
Raum geben, dass „Kultur nicht Erkenntnis ist, sondern Liebe“, wie uns
Berger im Anschluss an André Malraux mitteilt. Auf diesem Wege wären
die Aspirationen zu realisieren, die Bidsina Iwanischwili kurz nach
seinem Eintritt in die georgische Politik gesprächshalber erörterte.
Wenn diese fälschlich als allzu persönlich kritisierten Gedanken sich
mit den tiefsten Bestrebungen derjenigen Menschen verbinden, die gestern
auf dem Tawisuplebis Moedani ihrem Wollen Ausdruck verliehen, dann wird
die Verbindung von Gemeinsinn und Prospektive in Georgien zustande
kommen.